Kiew. Oleksandr hat für die Ukraine an der Front gekämpft, bekam den Tapferkeitsorden. Jetzt ist er Deserteur. Angst hat er keine, sagt er.
Es gibt ein Bild von Oleksandr, auf dem ist er im Osten der Ukraine zu sehen. Er posiert lässig in Uniform, eine Zigarette im Mund, ein Maschinengewehr im Arm, ein Sturmgewehr geschultert. Es stammt aus der Nähe von Bachmut, der Stadt, die wie kaum eine andere zum Symbol des Grauens des Krieges in der Ukraine geworden ist. Oleksandr hat dort fast ein Jahr lang in den Reihen der 60. Brigade gekämpft. Er ist mit einem Orden für Tapferkeit ausgezeichnet worden. Jetzt ist er offiziell ein Krimineller. Oleksandr ist ein Deserteur. Einer von fast 100.000 ukrainischen Soldaten, die nicht mehr kämpfen wollen. Er sagt: „Einen Sargdeckel kann man nicht öffnen. Gefängnistore schon.“
Der 48-Jährige stammt aus einem Dorf in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, ist verheiratet, hat Kinder. Oleksandr ist nicht sein richtiger Name. Er will anonym bleiben. Seine Geschichte kann nicht im Detail überprüft werden. Sie steht aber exemplarisch für ein Problem, das den ukrainischen Streitkräften zunehmend zu schaffen macht. Immer mehr Soldaten setzen sich unerlaubt von ihren Einheiten ab. Seit dem Beginn des russischen Überfalls im Februar 2022 sind in der Ukraine etwa 95.000 Verfahren gegen Deserteure eingeleitet worden, davon fast 62.000 im vergangenen Jahr.
Ukraine-Krieg: Putins Streitkräfte finden immer mehr Lücken
Ende 2025 machte das Schicksal der 155. Brigade deutlich, wie ernst das Problem ist. Die neu aufgestellte und in Frankreich trainierte Einheit sollte zu einer Musterbrigade werden. Noch bevor sie zum Einsatz kam, setzten sich Hunderte Soldaten ab. Die Brigade musste aufgelöst werden. Zugleich haben die Streitkräfte erhebliche Schwierigkeiten, neue Rekruten zu finden, um die in den vielen Schlachten ausgedünnten Ränge zu füllen. An der Front bedeutet das militärisch: Die russischen Streitkräfte finden immer mehr Lücken, in die sie hinein- und durchstoßen können.
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Im Februar 2022 ist Oleksandr in Polen. Er arbeitet dort. Als Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin die Ukraine überfallen, eilt er zurück in die Heimat. Er meldet sich freiwillig. Die Armee ist ihm nicht fremd. „Ich war bei der Anti-Terrorismus-Operation dabei.“ Die ATO, das war der Krieg gegen die Separatisten im Osten der Ukraine, der 2014 begann. Oleksandr kommt zur 60. Mechanisierten Brigade, dient dort als Fahrer eines Schützenpanzers. Er erlebt in Süden bei Cherson die erfolgreiche Gegenoffensive im Herbst 2022, wird dann in Bachmut eingesetzt. Zehntausende Soldaten beider Seiten sterben in dieser Schlacht. Oleksandr wird im Frühjahr 2023 verletzt. „Meine linke Hand funktioniert nicht mehr.“
Zurück an der Front landete er in einer Kompanie in der „Säufer und Kriminelle waren“
Trotzdem soll er nach seiner Reha zurück an die Front. „Ich bin in einer Kompanie gelandet, in der Säufer und Kriminelle waren.“ Im Dezember 2023 prügeln ihn die eigenen Kameraden krankenhausreif. Oleksandr hat genug. Nach einem Heimaturlaub kehrt er nicht mehr zu seiner Einheit zurück. „Ich habe mir einen Anwalt genommen, der sich um meinen Fall kümmert.“ In der Ukraine sind manche Kanzleien mittlerweile spezialisiert auf Fragen des Militärrechts. So wie die Kiewer Kanzlei Actum, in der sich Rustam, 38, um Fälle wie die von Oleksandr kümmert.
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Der Anwalt hat 30 Deserteure vertreten. „Die Zahlen steigen. Nicht nur, weil die Leute nicht mehr kämpfen wollen. Häufig desertieren sie auch wegen schlechter Kommandeure.“ Um die Mannstärke ihrer Einheiten aufrechtzuerhalten, ließen manche Befehlshaber ihre Soldaten nicht gehen, auch wenn diese aus gesundheitlichen Gründen entlassen werden müssten oder ihre Dienstzeit zu Ende sei.
Denjenigen, die nicht mehr aus dem Heimaturlaub zurückkehren oder, schlimmer noch, sich aus ihren Positionen an der Front entfernen, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Das ukrainische Parlament hat allerdings ein Gesetz erlassen, das Deserteuren, die wieder zu ihren Einheiten zurückkehren, Straffreiheit zusichert. Es ist der Versuch, einen Dammbruch aufzuhalten.
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Rustam kann seine Klienten verstehen. „Besonders die Soldaten, die seit 2022 kämpfen, brauchen dringend Erholung.“ Der Anwalt hat selbst zwei Jahre gedient, davon sechs Monate in Kampfeinsätzen. „Es ist schlimm zu sehen, wie Freunde sterben und zerfetzt werden.“ Bei sieben Männern ist es ihm gelungen, sie vom Militärdienst zu befreien. Bei anderen versucht er, sie zumindest in andere Einheiten versetzen zu lassen, wenn sie Probleme mit ihren Kommandeuren haben. „Aber das System ist juristisch schwer zu knacken.“
Auch Oleksandr, der Deserteur, sagt, es seien häufig schlechte Kommandeure, die ihre Soldaten zur Flucht trieben. „Manche verheizen ihre Männer. Andere sind korrupt und lassen sich 5000 Hrywnja (umgerechnet etwa 115 Euro, die Red.) für einen Tag Heimaturlaub auszahlen.“ Er kritisiert auch die Regierung. „Sie hört den Soldaten nicht zu. Außerdem gibt es kein Land, das ein System wie unser TZK hat.“ Das TZK ist das Einberufungsamt der Ukraine, das neue Soldaten rekrutiert. Es ist in der Bevölkerung wegen seiner teils rabiaten Methoden zunehmend verhasst.
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Die Rekrutierungsoffiziere führen gemeinsam mit der Polizei regelmäßig Kontrollen an provisorischen Checkpoints durch. Männer, die eingezogen werden können, werden nicht selten direkt von der Straße in Trainingszentren geschleppt, von denen aus sie an die Front gebracht werden. Die Wut schlägt mittlerweile in Gewalt um. Am Samstag wurde in Poltawa ein Rekrutierungsoffizier auf offener Straße erschossen, am selben Tag explodierte ein Sprengsatz an einem Rekrutierungsbüro in Riwne, wobei ein Soldat starb. Die Vorfälle alarmieren die Militärführung: Man dürfe nicht „stillschweigend der wachsenden Welle der Missachtung gegenüber den Verteidigern der Ukraine“ zusehen, schrieb Heeres-Befehlshaber Mychajlo Drabatyj nach den beiden Vorfällen.
Oleksandr sagt, er unterstütze die Streitkräfte weiterhin. „Ich fahre Transporte mit Lebensmitteln und anderen Sachen zu den Truppen im Osten.“ Angst davor, an einem Checkpoint verhaftet zu werden, habe er nicht. „Ich habe in der ATO gekämpft und in Bachmut. Ich habe meinem Bataillonskommandeur das Leben gerettet. Wovor soll ich Angst haben?“
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