Berlin/Warschau. Polen hat die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Premier Tusk hat große Ziele und einen Trumpf. Was Experten in Berlin ihm zutrauen.

Der designierte US-Präsident Donald Trump will von den europäischen Nato-Verbündeten viel höhere Verteidigungsausgaben erzwingen, die Furcht ist groß in Europa. Nur ein Regierungschef kann sich zufrieden zurücklehnen: der polnische Ministerpräsident Donald Tusk. Polen baut gerade die größte Armee Europas auf, mit vielen Milliarden etwa für tausend Kampfpanzer aus Südkorea, hundert Kampfhubschrauber und 80 Kampfjets aus den USA. Der Verteidigungsetat steigt nächstes Jahr von 4,2  auf 4,7 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung – das ist Spitze in der Nato, das schaffen nicht mal die USA (3,4 Prozent), Deutschland mit gerade mal zwei Prozent ohnehin nicht.

Sein Land, sagt Trumps Musterschüler Tusk selbstbewusst, habe nun eine Schlüsselrolle in der europäischen Verteidigungspolitik, ganz Europa werde dem Vorbild Polens folgen müssen. Als Tusk kürzlich Schwedens Premier Ulf Kristensen besuchte, jubelte der: „Polen ist ein Star“. So sieht es auch Tusk selbst, auch wenn noch die nationalkonservative Vorgängerregierung die Weichen stellte. Tusk will künftig in Europa stärker mitreden. Friedensverhandlungen mit der Ukraine? Könnten bald beginnen, glaubt der Premier. Er will dabei sein und schon jetzt eine Reihe von Gesprächen führen.

Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk (links) und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj umarmen sich herzlich bei einem Treffen in Lviv kurz vor Weihnachten.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk (links) und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj umarmen sich herzlich bei einem Treffen in Lviv kurz vor Weihnachten. © AFP | YURIY DYACHYSHYN

Die Gelegenheit ist günstig. Am 1. Januar hat Polen für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernommen, es führt also Regie bei den Minister-Räten, setzt Themen. Polens Motto: „Sicherheit, Europa!“. Tusk markiert nun offen einen Führungsanspruch in Europa. Der Liberal-Konservative, der schon einmal hauptamtlicher EU-Ratspräsident in Brüssel war und die Machtspiele dort gut kennt, ergreift die Chance: Andere Führungsmächte in Europa fallen derzeit aus. Der Polen-Beauftragte der Bundesregierung, Dietmar Nietan, sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: „Polens Einfluss ist enorm gestiegen, Donald Tusk handelt richtig: Weil Deutschland und Frankreich im Moment aus unterschiedlichen Gründen auf europäischer Ebene nicht voll einsatzfähig sind, kommt es unter den großen und mittelgroßen EU-Staaten jetzt sehr stark auf Polen an.“

„Frustration“ in Warschau: Im deutsch-polnischen Verhältnis knirscht es

Nietan meint: „Donald Tusk nutzt die Ratspräsidentschaft als einen Baustein für seinen Anspruch: Mit Polen ist zu rechnen.“ Ähnlich sieht es Kai Lang, Osteuropa-Experte des Berliner Think-Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Tusk wird vermutlich versuchen, möglichst viele relevante Staaten Europas zusammenzuführen, um dann bei eventuellen Friedensverhandlungen als europäischer Wortführer etwa gegenüber Trump aufzutreten“, sagt Lang im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Frage ist nur: Ist Deutschland auch dabei? Zuletzt hatte es erhebliche Irritationen im deutsch-polnischen Verhältnis gegeben. Sichtbar wurde das kurz vor Weihnachten, als Tusk sich erst mit einer Gruppe skandinavischer und baltischer Länder traf, mit denen er ohnehin in ständigem Kontakt steht – nur Deutschland war als einziger Ostsee-Anrainer nicht dabei. Kurz darauf empfing Tusk den französischen Premier Emmanuel Macron in Warschau. Auch der britische Premier Keir Starmer wird in Warschau erwartet. Allein Scholz bleibt außen vor.

Kanzler Scholz empfängt Tusk und Macron
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) empfing im März den französischen Präsidenten Emmanuel Macron (r) und den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk zu einem Treffen im Kanzleramt. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Für lautstarke Verärgerung in Warschau hatten die deutschen Binnengrenzkontrollen gesorgt, über die sich Tusk bei Scholz telefonisch beschwerte. Als Affront kam es in Polen an, dass Scholz während des Besuchs von US-Präsident Joe Biden zwar Macron und Starmer zum Gipfel ins Kanzleramt einlud, aber nicht Tusk. Dass Scholz Mitte November mit Russlands Präsident Wladimir Putin telefonierte, tadelte Tusk öffentlich – aus seiner Sicht ein Rückfall in eine völlig falsche Russland-Politik Deutschlands aus früheren Jahren. Das Weimarer Dreieck, die Kooperationsplattform von Deutschland, Frankreich und Polen, hatte mit einer Reihe verpasster Chancen ohnehin schon an Bedeutung verloren.

Der Polen-Beauftragte Nietan sagt, die Beziehungen seien besser als vor einem Jahr, aber ausbaufähig – auf der polnischen Seite gebe es „Frustration“. „Die Regierung in Warschau hat sich sehr über die anfänglichen deutschen Signale zur stärkeren Zusammenarbeit gefreut, die Hoffnungen wurden aber enttäuscht.“ Zu einem erwarteten Sicherheitspaket als Beitrag zur Verteidigung Polens gegen die russische Bedrohung sei es noch nicht gekommen, zu einer humanitären Geste Deutschlands für die letzten noch lebenden Opfer der Nazi-Diktatur auch nicht. Das habe auch mit den Differenzen über die Haushaltspolitik der Ampel-Koalition zu tun. „Jetzt demonstriert Tusk vor den wichtigen Präsidentschaftswahlen in Polen im Mai, dass es zur Not auch ohne die Deutschen geht.“

Experte: „Polen sieht sich gegenüber Deutschland im Aufwind“

Polen-Experte Lang meint, grundsätzlich wolle Tusk pragmatisch mit Deutschland zusammenarbeiten, anders als die PiS-Vorgängerregierung. Doch es gebe nicht nur inhaltliche Differenzen etwa im Umgang mit der Ukraine, in der Migrationspolitik oder bei Energie- und Klimafragen – Tusk und seine Regierung verspürten von Deutschland auch nicht genügend Anerkennung. „Polen möchte Wertschätzung und als gewichtiger Akteur in Europa wahrgenommen und eingebunden werden“, betont Lang. Das Land sehe sich gegenüber Deutschland im Aufwind – als aufstrebende Regionalmacht an der Ostflanke der Nato, während Deutschland als kränkelnder großer Nachbarn eingeschätzt werde, der mit innenpolitischen und ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen habe.

Aussicht auf schnelle Besserung gibt es nicht. Tusk ist jetzt im Wahlkampf, er muss alles daran setzen, dass der nationalkonservative Präsident Andrzej Duda von der PiS-Partei bei den Präsidentschaftswahlen im Mai abgelöst wird – Duda blockiert immer wieder gezielt die Regierungsarbeit, mit ihm droht Tusk innenpolitisch ein Debakel. Da darf Tusk nicht als zu nachgiebig gegenüber Deutschland wirken.

Bis zur Präsidentschaftswahl werde sich in den Beziehungen wohl nichts mehr bewegen, sagt auch der Polen-Beauftragte Nietan. Im Juli aber, nach den Wahlen, könnte es zu deutsch-polnischen Regierungskonsultationen kommen: „Dann wäre vielleicht ein großer Deal beispielsweise in der Sicherheitspolitik möglich.“ Nietan wünscht sich, dass die Bundesregierung bis dahin Tusks Ratspräsidentschaft mit viel Interesse und Sympathie unterstützt. „Es wird hoffentlich eine sehr wichtige und markante Ratspräsidentschaft“ – die erste in der neuen, zweiten Amtszeit von US-Präsident Trump, die erste mit der neuen EU-Kommission.„Verteidigung und Sicherheit hat Polen an die erste Stelle gesetzt – Europa und Deutschland können sich nicht mehr hinter den Amerikanern verstecken“, sagt Nietan. „Polen will die EU in die richtige Richtung steuern.“