Washington/Los Angeles. Der Daten-Wissenschaftler Thomas Miller nutzt eine erstaunliche Methode – und liegt mit seinen Prognosen überraschend oft richtig.

Vor vier Wochen war Thomas Miller mutterseelenallein auf weiter Flur mit seiner Vorhersage für einen Erdrutschsieg von Kamala Harris gegen Donald Trump – und dabei sehr entspannt.

Konträr zu herkömmlichen Meinungsumfragen, die bereits im August ein knappes Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl prognostizierten, attestierte der in Los Angeles arbeitende Professor für Daten-Wissenschaft an der Northwestern University der Demokratin die Aussicht auf über 350 Stimmen im „electoral college”. Jenes Gremium, das am 17. Dezember auf Basis der Abstimmung am 5. November den 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten bestimmen soll. 270 reichen zum Sieg.

Dann wich der Gelassenheit des 78-Jährigen echte Sorge. „Es ist zum Fürchten. Binnen eines Monats hat es eine komplette Umkehr gegeben. Es gibt kein enges Rennen mehr“, sagte Miller im Interview mit dieser Zeitung vor einer Woche.

Seine damalige Prognose, die täglich auf seiner Internetseite „virtualtout.com“ aktualisiert wird, lief (Stand: 26.10.) auf einen haushohen Sieg – 364:171 Stimmen – für Donald Trump hinaus.

Thomas Miller
Professor Tom Miller aus Los Angeles, einer der erfolgreichsten Prognostiker bei US-Wahlen. © Tom Moore | Tom Moore

Alles Schnee von gestern. Seit der skandalösen Kundgebung Trumps im New Yorker Madison Square Garden, wo rassistische und sexistische Sprüche geklopft und die US-Übersee-Insel Puerto Rico mit Häme überzogen wurden, schlägt das Pendel klar in Harris‘ Richtung. Trump hat in der Prognose über 100 Stimmen im Wahlmänner-Gremium verloren. An diesem Sonntag (3. November) führt die Demokratin mit 301 Stimmen. Trump kommt auf 237.

Dass man Miller in politischen Zirkeln und US-Medien aufmerksam zuhört, liegt an seiner Leistungsbilanz. Am Morgen der Wahl 2020 sagte der Akademiker mit 75,7-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen Sieg für Joe Biden voraus – mit 294 Stimmen im Wahlleute-Gremium. Er vertat sich nur um zwölf Stimmen (Biden hatte 306) und tippte jeden Bundesstaat mit Ausnahme von Georgia und einem Landkreis in Maine richtig. Kein Nate Silver, kein Umfrage-Institut war treffsicherer.

Noch präziser war der Mann mit der Hornbrille und dem ansteckenden Lachen bei den Stichwahlen für den Senat im Bundesstaat Georgia zur Jahreswende 2020/2021. Dort lieferte Miller als einziger eine Punktlandung, als es die Siege von Raphael Warnock und Jon Ossoff zu prophezeien galt. Mehrere Umfrage-Institute hatten den Demokraten Niederlagen vorhergesagt.

Dabei setzt Miller auf ein anderes Modell als die großen Institute. Während Meinungsforscher die Leitfrage stellen: „Wen werden Sie wählen?”, schaut Miller auf das Verhalten der Teilnehmer auf der Wett-Plattform „PredictIt”. Dort steht diese Frage im Zentrum: „Wer wird Ihrer Ansicht nach die Wahl gewinnen?”. 

Wahlkampf in den USA - Trump
Hat die skandalöse Wahlkampfveranstaltung im Madison Square Garden in New York ihm auf der Zielgeraden die Siegchancen genommen? Der Wissenschaftler Thomas Miller sieht Indizien dafür. © DPA Images | Evan Vucci

Wett-Börsen sind für Miller ein „verlässlicherer Frühindikator für den Ausgang einer Wahl”. Weil Umfragen nur zeitverzögerte Momentaufnahmen aus der Vergangenheit abbilden. Miller hält das Geschehen an der Börse für hellsichtiger. Er glaubt an die „Weisheit der Menge”. Bei „PredictIt” setzen Menschen ihr Geld für das ein, „woran sie glauben, dass es in der Zukunft geschieht”, sagt er. Dabei folge das Wettverhalten der Menschen oft dem Geschehen auf der politischen Bühne.

US-Wahl 2024: Miller glaubt an die „Weisheit der Menge“

So hat Miller festgestellt, dass Donald Trumps beleidigender Auftritt vor afroamerikanischen Journalisten Ende Juli, als er die ethnische Identität seiner Rivalin anzweifelte, ein Wendepunkt für Kamala Harris war. An jenem Tag wurden bei „PredictIt“, wo maximal 850 Dollar pro Kontrakt eingesetzt werden dürfen, über 100.000 Aktien gehandelt. Dreimal so viel wie sonst. Miller: „Wett-Teilnehmer liefen in Massen zu Harris über.“

Damals durchbrach die Demokratin erstmals die Schallmauer von 270 Stimmen im Wahlmänner-Gremium, die zum Einzug in das Weiße Haus benötigt werden. Von da an bis Ende September attestierte Miller ihr einen konstant klaren Vorsprung. Wobei der Demokraten-Parteitag in Chicago, die TV-Debatte gegen Trump und die Fürsprache von Pop-Superstar Taylor Swift jeweils auf das Wettverhalten abgefärbt hätten.

Sodass Miller, der bei seinen Kalkulationen neben den Wetteinsätzen auf die Ergebnisse der letzten sechzehn Präsidentschaftswahlen seit 1960 (Nixon/Kennedy) nach einem ausgeklügelten Modell aufbaut, Harris am 22. September 327 Stimmen einräumte. Trump kam nur auf 211 Wahlmänner.

Seit Anfang Oktober geriet Harris‘ Stern in den Sinkflug, eine schwere Niederlage drohte. Täglich lässt Miller die PredictIt-Preise durch sein System laufen, um die Anzahl der Stimmen der Wahlleute zu kalkulieren. Jeweils um Mitternacht veröffentlicht er die aktuelle Aufschlüsselung auf seiner Homepage, „The Virtual Tout“.

US-Wahl: Analyst beschreibt Achterbahn-Fahrt an der Wettbörse

Für Miller, der seit Jahrzehnten akademisch-analytisch Wahlen beobachtet, ist der Vier-Wochen-Wandel rätselhaft. „Zum ersten Mal in der Geschichte der USA hat sich der Präsidentschaftswahlkampf von einem offenen Rennen zu einem Erdrutschsieg der Republikaner, zu einem offenen Rennen, zu einem möglichen Erdrutschsieg der Demokraten, wieder zu einem offenen Rennen und nun zu einem stark republikanischen Rennen entwickelt.“, sagt er der Funke Mediengruppe am 26. Oktober. Und: „Ich konnte kein einzelnes Ereignis identifizieren, das die Veränderung der Trump-Quoten im Oktober erklären würde.“

Die Botschaft der Republikaner sei „düster und einwanderungsfeindlich, gespickt mit abfälligen Kommentaren über Harris”, analysiert Miller. Trump schwöre, er werde sich an seinen politischen Gegnern rächen, falls er die Wahl gewinnt. Weder Trump noch Vance akzeptierten die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 2020. Im Gegensatz dazu sei die Botschaft der Demokraten „optimistisch und hoffnungsvoll und bietet Einheit statt Spaltung”. Warum trotzdem der Absturz auf demokratischer Seite?

Professor Miller vermutet, dass die Haltung Trumps im Gegensatz zu der die stetige Militärhilfe für die Ukraine und Israel befürwortenden Biden-Regierung eine Ursache sein könnte. „Wähler sagen: keine Kriege mehr. Das Gefühl korrespondiert mit Trumps isolationistischer America First-Politik. Und das ist für viele Menschen, wie ich glaube, attraktiv.”

Dazu kommt, dass Harris bei TV-Auftritten erklärt hat, ihr falle keine Entscheidung von Präsident Joe Biden ein, die sie anders getroffen hätte. Gleichzeitig bezeichnet sie sich aber als „Kandidatin für den Wandel“. Miller regt das auf: „Wie kannst du Wandel versprechen, wenn du komplett einverstanden bist mit dem amtierenden Amtsinhaber?“ Der Enthusiasmus der ersten Tage, den Harris erzeugt habe, „ist fast vollständig verloren gegangen – durch eine einzige Aussage“. Ihr enge Anlehnung an den bis zu seinem Kandidaturverzicht unbeliebten Biden könne dazu beigetragen haben, dass Trumps Werte im Oktober permanent angestiegen sind.

Prognose-Experte Miller: Wähler akzeptieren „Erfolgsbotschaft“ der Demokraten nicht

Ein letzter möglicher Grund: Viele Wähler ließen sich nicht beeindrucken von steigendem Inlandsprodukt oder niedriger Arbeitslosenquote. Denn die Verbraucherpreise seien weiter hoch. „Die Erfolgsbotschaft der Demokraten korrespondiert nicht mit den Alltagserfahrungen vieler Wähler. Sie kämpfen von Gehaltsabrechnung zu Gehaltsabrechnung.” 

Thomas Miller, als Wissenschaftler neutral und parteiunabhängig, „fürchtet“ sich nach eigenen Worten vor der Aussicht auf eine zweite Trump-Präsidentschaft. „Für Kamala Harris läuft wenige Tage vor der Wahl die Zeit ab“, sagte er am 26. Oktober, „wenn der Turn-around geschafft werden soll, dann muss es jetzt sehr schnell gehen.“ Eine Woche danach fühlt sich der Wissenschaftler bestätigt. Trump sei durch eigenes Dazutun, nach dem Auftritt in New York folgten gewaltverherrlichende rhetorische Attacken gegen die Republikanerin Liz Cheney, auf die abschüssige Bahn geraten. Ein Harris-Sieg sei möglich.