Berlin. Landkreistagspräsident Achim Brötel fordert eine radikale Reform des Bürgergeldes – und sagt, was er von der Durchhalteprämie hält.
Achim Brötel ist Landrat im Neckar-Odenwald-Kreis (Baden-Württemberg) und seit wenigen Wochen Präsident des Deutschen Landkreistags. Beim Besuch in unserer Berliner Redaktion schildert das CDU-Mitglied, warum ihn das System des Bürgergelds an einen Stuhlkreis erinnert.
Herr Brötel, vermissen Sie Hartz IV?
Brötel: Der Weg zum Bürgergeld war in der Tat falsch. Wir sind zu sehr auf das Fördern gegangen und haben das Fordern vernachlässigt. Ich wünsche mir wieder mehr Verbindlichkeit und Druck auf Langzeitarbeitslose, wie das bei Hartz IV der Fall war. Zum Glück findet hier ein Umdenken statt.
Unterstützen Sie die Forderung der Union, das Bürgergeld abzuschaffen?
Brötel: Dass man das Bürgergeld komplett abschaffen muss, bezweifele ich. Wir werden immer ein unterstes soziales Netz brauchen. Man muss es aber in jedem Fall grundlegend reformieren.
Die Ampel versucht sich an schärferen Regeln: Für einen neuen Job soll ein Arbeitsweg von drei Stunden zumutbar sein. Und wer eine Stelle ablehnt, muss mit empfindlichen Kürzungen rechnen.
Brötel: Diese Verschärfungen unterstütze ich nachdrücklich. Genau das brauchen wir, damit angebotene Jobs auch angenommen werden. Das Bürgergeld in seiner jetzigen Form ist so etwas wie ein Stuhlkreis auf Augenhöhe. Nett, aber nicht effizient.
Die Regierung will auch, dass Langzeitarbeitslose eine Prämie von 1000 Euro bekommen, wenn sie in einem neuen Arbeitsverhältnis ein Jahr durchhalten. Wie beurteilen Sie das?
Brötel: Wenn man die Gesellschaft weiter spalten will, dann muss man es genau so machen. Eine Durchhalteprämie von 1000 Euro kann natürlich nicht der Weg sein. Langzeitarbeitslose müssen ganz regulär und zu den allgemeinen Konditionen in Arbeit gebracht werden.
Finden Sie es richtig, dass Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine – im Unterschied zu Asylbewerbern aus anderen Ländern – Bürgergeld bekommen?
Brötel: Ich habe die Entscheidung, Ukrainerinnen und Ukrainer direkt in das Bürgergeld aufzunehmen, nie verstanden. Man muss sich nur eine Flüchtlingsunterkunft vorstellen, in der ein Ukrainer neben einem Syrer wohnt. Der eine ist vor dem Aggressor Putin geflohen, der andere vor seinem Handlanger Assad. Wie soll ich dem Syrer erklären, dass er sich mit Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz begnügen muss, der Ukrainer aber Bürgergeld bekommt wie die Deutschen? Diese Unterscheidung ist durch nichts zu rechtfertigen.
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Finanzminister Lindner will das korrigieren.
Brötel: Der sofortige Rechtskreiswechsel für die ukrainischen Kriegsflüchtlinge war eine Fehlentscheidung der Politik. Wir sollten die Regeln allerdings nicht mehr rückwirkend ändern, dafür wäre der Aufwand zu groß. Aber vom 1. Januar 2025 an sollten Ukrainerinnen und Ukrainer, die neu nach Deutschland kommen, nach den Regeln für Asylbewerber unterstützt werden. Der Vorschlag von Christian Lindner geht in diese Richtung und findet unsere Zustimmung. Dabei muss klar sein, dass auf die Landkreise, Städte und Gemeinden keine höheren Kosten zukommen dürfen. Wenn Kommunen das Asylbewerberleistungsgesetz anwenden, müssen die Kosten zu 100 Prozent von den Bundesländern erstattet werden. Aber auch der Bund muss mehr tun.
Nämlich?
Brötel: Der Bund muss – wie er das bis 2021 gemacht hat – im Bürgergeld die kompletten Unterkunftskosten für Flüchtlinge übernehmen. Seit 2022 tut er das nämlich nicht mehr. Das hat die Kommunen seither schon sieben Milliarden Euro gekostet. Und auch die Jobcenter müssen finanziell sehr viel besser ausgestattet werden.
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Konkret?
Brötel: Die Jobcenter haben momentan deutlich mehr zu tun, weil die Wirtschaft schwächelt und Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Und natürlich wegen der vielen geflüchteten Ukrainer. Trotzdem will der Finanzminister im Haushalt für das kommende Jahr die Mittel für die Jobcenter um 350 Millionen kürzen. Mehr Aufgaben, aber weniger Geld – das kann nicht funktionieren. Die Jobcenter brauchen umgekehrt mindestens eine Milliarde Euro mehr – also gut 10,5 statt der eingeplanten 9,3 Milliarden Euro. Sonst wird die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt auf breiter Front scheitern. Ich sage immer: Der Esel, der den Karren zieht, muss halt auch etwas zu fressen bekommen.
Wie viel Geld fehlt Landkreisen, Städten und Gemeinden insgesamt?
Brötel: Dieses Jahr fehlen der kommunalen Seite mehr als 13 Milliarden Euro. Und es wird auf Jahre hinaus ein zweistelliger Milliardenbetrag bleiben. Die Haushalte der Landkreise sind bundesweit im freien Fall. Das ist ein deutliches Alarmsignal.
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Woran merkt man das im Alltag?
Brötel: Das schlägt auf die Städte und Gemeinden durch. Wenn wir die Kreisumlage erhöhen müssen, fehlt das Geld für Kitas, Schulen, Vereine, Wirtschaftsförderung oder Kultur. Wir haben in Deutschland allerdings ein Ausgaben- und weniger ein Einnahmenproblem. Die Kommunen müssen viele zusätzliche Aufgaben erledigen, die uns der Gesetzgeber in den letzten Jahren übertragen hat, ohne sie ausreichend zu finanzieren.
Welche Aufgaben meinen Sie?
Brötel: Zum Beispiel den immensen Verwaltungsaufwand bei der Eingliederung von Menschen mit Behinderung, den das Bundesteilhabegesetz verlangt. Die Leistungen werden nicht mehr pauschal bezahlt, dafür sind jetzt individuelle Teilhabepläne auf der Basis ewig langer Formulare gefordert, um in jeder Situation die absolute Einzelfallgerechtigkeit sicherzustellen. Die Atomisierung der Leistungen führt aber dazu, dass die Kosten explodieren. Im Neckar-Odenwald-Kreis haben wir seit meinem Amtsantritt 2005 eine Steigerung um das Dreifache. Das ist ein typisch deutsches Problem. Das Wort Einzelfallgerechtigkeit gibt es weder im Englischen noch im Französischen, Italienischen oder Spanischen. Das gibt es nur bei uns. Wenn man bei der Eingliederungshilfe zu maßvollen Pauschalierungen käme, würde die Welt ganz bestimmt nicht untergehen.
Woher soll das fehlende Geld kommen?
Brötel: Im Moment bekommen wir 14 Prozent vom Steuerkuchen und müssen 25 Prozent der gesamtstaatlichen Ausgaben bestreiten. Selbst diejenigen, die in Mathematik früher öfter krank waren, müssten eigentlich merken, dass das nicht funktionieren kann. Warum überlegen sich Bund und Länder nicht bei jedem neuen Gesetz schon vor dem Beschluss, woher das Geld dafür kommen soll? Aktuell werden die Kommunen jährlich in Höhe von 8,2 Milliarden an der Umsatzsteuer beteiligt. Wir fordern einen deutlich größeren Anteil, nämlich 17,5 Milliarden.
Die Ausgaben könnten noch steigen. Die Gewerkschaft Verdi fordert acht Prozent mehr Lohn für den öffentlichen Dienst …
Brötel: Die Verdi-Forderung ist offenbar von einem fremden Stern. Die Inflation liegt momentan gerade einmal bei 1,6 Prozent. Bereits im letzten Jahr sind die Gehälter deutlich gestiegen. Auch Gewerkschaften unterliegen einem Mäßigungsgebot.
Verdi argumentiert auch mit der Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen Dienstes. Finden Sie genügend Personal, ohne die Löhne deutlich zu erhöhen?
Brötel: Die Einstellung vieler junger Menschen ist nicht mehr primär auf Geld ausgerichtet. Da zählt auch Flexibilität und Freiheit. Mit mehr Gehalt wird man nicht automatisch zu einem attraktiven Arbeitgeber. Der öffentliche Dienst ist übrigens immer noch ein interessanter Arbeitgeber.
Bedeutet Flexibilität auch weniger Arbeitszeit?
Brötel: Eine Reduzierung der Arbeitszeit ist schwierig, solange viele Fachkräfte fehlen. Ein Sabbat-Jahr ist aus Sicht des Einzelnen natürlich eine sympathische Idee, ebenso eine Vier-Tage-Woche oder was auch immer. Wenn es nur um eine andere Verteilung der Arbeitszeit geht, wäre ich da offen. Eine Verringerung passt aber überhaupt nicht in die Zeit, sondern gefährdet vielmehr die Funktionsfähigkeit der Verwaltung. Unsere Mitarbeiter müssen momentan eher mehr als weniger arbeiten.
Wo liegt die Schmerzgrenze bei den Löhnen?
Brötel: Den Tarifverhandlungen können wir natürlich nicht vorgreifen. Aber eigentlich ist mehr als ein Ausgleich der Inflation nicht drin. Alles, was darüber liegt, können wir nicht mehr verantworten.