Berlin/Brüssel. Was bringt die Freigabe der US-Raketen für die Ukraine? Was sind die Ziele, wie reagiert Putin? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Hoffnungsschimmer für die Ukraine im Krieg mit Russland: Kiew erhält endlich die Erlaubnis, mit westlichen Waffen Ziele auf russischem Gebiet anzugreifen. Die US-Regierung gibt unter dem Eindruck der verstärkten russischen Angriffe auf die Ukraine ihre Zurückhaltung auf – obwohl Wladimir Putin schon gewarnt hat, dann wäre die Nato „im Krieg mit Russland“.
Was will die Ukraine in Russland?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt: „Wir tragen den Krieg nach Russland – damit Putin bereit ist, Frieden zu suchen.“ Er hat seit Monaten auf die Erlaubnis gedrängt, mit weitreichenden westlichen Waffen auch Ziele tief im russischen Hinterland anzugreifen – und er fordert die entsprechende Lieferung von zusätzlichen Raketen und Marschflugkörpern.
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Die Ukraine ist besorgt, weil Russland jetzt den Druck an der Front in der Ostukraine erhöht und zudem gezielt ihre Energieinfrastruktur zerbombt. Befürchtet wird ein Katastrophen-Winter für Millionen Ukrainer ohne Strom und Heizung. „Die russischen Schläge werden unmöglich, wenn es uns möglich wird, die Abschussrampen der Okkupanten dort zu vernichten, wo sie sind, und die russischen Militärflugplätze und die Logistik dazu“, meint Selenskyj.
Warum ändern die USA ihren Kurs?
US-Präsident Joe Biden hat nach übereinstimmenden Berichten den Einsatz von US-Waffen längerer Reichweite gegen Ziele tief im russischen Staatsgebiet überraschend erlaubt. Entsprechende Beschränkungen seien aufgehoben worden. Laut „New York Times“ dürften die Raketen zunächst gegen russische und nordkoreanische Soldaten in der Oblast Kursk eingesetzt werden, die ukrainische Regierung kündigte einen Angriff in den nächsten Tagen an. Bislang galt die klare Ansage, dass westliche Waffen nicht auf Ziele im russischen Territorium eingesetzt werden dürfen.
Als Ausnahme erlaubt war das im Frühsommer regional begrenzt nur, um die russische Offensive auf Charkiw abzuwehren. Biden fürchtete bisher ebenso wie die Bundesregierung eine Eskalation des Konflikts, bei dem die Ukraine am Ende als Verlierer dastehen könnte, bis hin zum Risiko eines Atombombeneinsatzes, der eine Reaktion auch des Westens erzwingen würde. Skeptiker sahen sich bestätigt, als ukrainische Drohnen im April in Russland eine strategisch wichtige Radarstation zu Frühwarnung von Atomraketen zerstörten – nach Moskauer Militärdoktrin nährt sich das dem Bereich, der den Einsatz von Atomwaffen rechtfertigen könnte.
Doch bereits seit September wurde im Weißen Haus erwogen, der Ukraine doch mehr Freiheiten zu geben: Eine Rolle spielen erstens die russischen Terrorangriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine, vor allem die Energieversorgung, die jetzt noch einmal ausgeweitet werden. Ein Wendepunkt ist zweitens die verstärkte Militärhilfe Nordkoreas für Russland: Das Regime schickt nicht nur Raketen und Munition, inzwischen sind mindestens 10.000 Soldaten aus Nordkorea im Einsatz oder kurz vor dem Einsatz an der Seite der russischen Angreifer gegen die Ukraine – eine Eskalation, die das strategische Kalkül des Westens massiv ändert. Drittens setzt Putin offenbar alles daran, vor möglichen Friedensverhandlungen, die der künftige US-Präsident Donald Trump erzwingen will, noch größere Gebiete in der Ukraine zu erobern, um seine Verhandlungsposition zu verbessern.
Diese Taktik Putins ist auch kaum im Sinne Trumps. Ohnehin bleiben die Aussichten auf Friedensverhandlungen unklar. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigt sich nach seinem am Freitag geführten Telefonat mit Putin skeptisch: „Das Gespräch war sehr ausführlich, hat aber auch zu der Erkenntnis beigetragen, dass sich bei dem russischen Präsidenten an seinen Ansichten zu diesem Krieg nicht viel geändert hat, was keine gute Nachricht ist“, sagte Scholz am Sonntag. Viertens findet unter Sicherheitsexperten in Washington und einigen europäischen Hauptstädten die Argumentation der Ukraine zunehmend Anhänger, dass Russlands Eskalationsdrohungen nicht glaubwürdig seien. Der Kursk-Einmarsch habe gezeigt, dass Russlands rote Linien nur „Bluff“ seien, meint Kiews Verteidigungsminister Rustem Umerov. Der deutsche Militärexperte Michael Rühle, der lange im internationalen Stab der Nato arbeitete, mahnt den Westen aber, weiter mit großer Umsicht vorzugehen: „Dass man eine echte rote Linie überschritten hat, weiß man erst, wenn es zu spät ist.“
Wie reagiert Wladimir Putin?
Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Westen deutlich gewarnt: Durch Angriffe mit westlichen Waffen befänden sich die Nato-Staaten, die USA und die Europäer „im Krieg mit Russland“. Denn die Ukraine könne die weitreichenden Raketen nicht allein einsetzen, sie brauche westliche Hilfe und Satellitensteuerung. Dann werde Russland „entsprechende Entscheidungen als Reaktion auf die Bedrohung treffen“, sagte Putin bereits vor einigen Wochen, als sich die Kehrtwende der US-Regierung abzeichnete. Der Putin-Vertraute Vyacheslav Volodin, Sprecher der Staatsduma, meint, Moskau werde dann gezwungen sein, stärkere und zerstörerische Waffen gegen die Ukraine einzusetzen. Vize-Außenminister Sergy Ryabkow hat bereits erklärt, Russland werde jede Lieferung entsprechender US-Raketen zerstören. Moskau geht aber bisher nicht so weit, den Angriff auf militärische Transportwege etwa in Polen anzudrohen. Laut „New York Times“ fürchteten US-Geheimdienste bislang eher, dass Russland als Reaktion den Iran bei einem Angriff auf US-Streitkräfte im Nahen Osten unterstützen könnte.
Um welche Waffen geht es? Kommen deutsche Taurus zum Einsatz?
Es geht zunächst vor allem um amerikanische ATAMCS-Raketen (Army Tactical Missile Systems) – die begehrte Version mit einer Reichweite von 300 Kilometern haben die USA erstmals im Frühjahr geliefert, nach unbestätigten Berichten über hundert Stück. Sie sind für die Ukraine ausdrücklich nur „zur Verwendung innerhalb ihres eigenen Territoriums“ vorgesehen, wie der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan erklärte. Mehrmals hat die Ukraine mit den Raketen Flugplätze auf der Krim und Stellungen im besetzten Südosten angegriffen. Nach der US-Entscheidung dürfte es aber bald auch um Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow gehen, die Großbritannien, Frankreich (dort heißen sie Scalp) und Italien geliefert haben – ebenfalls nur für Ziele in der Ukraine. Sie werden von Flugzeugen in der Luft gestartet, haben eine Reichweite von 250 Kilometern, können Bunker und Munitionsdepots zerstören.
Mit Storm Shadows hat die Ukraine Ziele auf der Krim vernichtet, darunter ein Kriegsschiff und ein U-Boot, und zuletzt eine Kommandozentrale im russisch besetzten Luhansk angegriffen. Nato-Militärs loben die Waffen als „hoch effektiv, sehr präzise gegen gut geschützte Ziele“. Die Ukraine verfügt über eine sehr begrenzte Stückzahl, jeder Marschflugkörper kostet fast eine Million Euro. Der britische Premier Keir Starmer wollte Kiew längst freie Hand geben, doch Biden hatte ihn gebremst. Theoretisch könnte es jetzt auch um die deutschen Taurus-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 Kilometern gehen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat das aber so klar abgelehnt, dass Selenskyj entsprechende Forderungen nicht mehr erneuert.
Was könnten westliche Raketen erreichen?
Nach Schätzungen von Militäranalysten des US-Instituts für Kriegsstudien könnten mit den amerikanischen ATAMCS-Raketen etwa 250 militärische Ziele in Russland getroffen werden: Flugplätze, Militärstützpunkte, Kommunikationsstationen, Logistikzentren, Treibstofflager und Munitionsdepots. „Ukrainische Langstreckenschläge gegen russische Militärziele im Rücken Russlands sind entscheidend, um die militärischen Fähigkeiten Russlands im gesamten Kriegsgebiet zu schwächen“, so die Analyse.
Doch diskutieren ukrainische Militärstrategen auch, ob nicht ein „Demonstrationsschlag“ im Raum Moskau die russische Regierung an den Verhandlungstisch zwingen könne. Selenskyjs Stabschef Andriy Yermak hatte in Washington schon eine Liste potenzieller Ziele vorgelegt. Selensykj spricht vom „Siegesplan für die Ukraine“. Bidens Sicherheitsberater Sullivan hat allerdings frühzeitig klargestellt: „Es gibt keine Wunderwaffe in diesem Konflikt. Diese eine neue Fähigkeit wird keine endgültige Lösung bringen.“ So hat Russland wichtiges Militärgerät bereits außerhalb der 300-Kilometer-Reichweite gebracht, vor allem die Flugzeuge, die zum Abschuss der verheerenden Gleitbomben eingesetzt werden.
Hat die Ukraine keine eigenen Langstreckenwaffen?
Als Alternative zu westlichen Waffen entwickelt die Ukraine eigene Langstreckendrohnen, von denen dieses Jahr schon 10.000 Stück produziert werden sollen, und Marschflugkörper. Bereits jetzt treffen diese Drohnen regelmäßig Ziele tief im russischen Hinterland, oft über mehr als tausend Kilometer entfernt – Militäranlagen, Öldepots und Raffinerien, aber auch das Gebiet rund um Moskau. Auch ballistische Raketen hat die Ukraine schon im Einsatz, die angeblich bis zu 3000 Kilometer weit fliegen können.
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