Brüssel/Berlin. Die Verlegung von Tausenden Soldaten aus Nordkorea nach Russland hat bereits begonnen. Putins Deal mit Kim beunruhigt Selenskyj.
Der russische Präsident Wladimir Putin verheizt im Ukraine-Krieg seine Soldaten mit grausamer Konsequenz. Ein Menschenleben zählt nichts, für kleine Geländegewinne werfen Putins Generäle Soldaten Welle um Welle an die Front. „Wenn vorn hundert Leute draufgehen, schicken sie einfach die nächsten hundert nach und dann die nächsten hundert“, beschreibt der Militärökonom Marcus Keupp die skrupellose Taktik. Mehr als 600.000 Mann habe die russische Armee seit Kriegsbeginn verloren, sie sind verwundet oder gefallen, schätzen Nato-Militärs.
Händeringend sucht die Truppe neue Soldaten, doch Putin will eine Massenmobilisierung unbedingt vermeiden, weil er Proteste befürchtet. Jetzt bekommt der Kremlherrscher Hilfe von einem verbündeten Regime: Nordkorea schickt nicht mehr nur Waffen, sondern auch Soldaten für den Einsatz im Ukraine-Krieg – eine neue Stufe im Angriffskrieg, die die Ukraine und westliche Partner schockiert.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schlug in Brüssel Alarm: „Wir wissen, dass Nordkorea die Entsendung von über 10.000 Soldaten nach Russland vorbereitet - sie sollen gegen die Ukraine kämpfen“, sagte Selenskyj. Putin und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un hätten ihre militärische Kooperation offenbar vertieft. In Kiew hatten Warnungen des ukrainischen Geheimdienstes schon zuvor für Unruhe gesorgt. Kurz nach Selenskyjs Auftritt legte der Präsident von Südkorea, Yoon Suk Yeol, nach: Er berief in der Hauptstadt Seoul eine Sondersitzung von Militär- und Geheimdienstexperten ein und ließ sein Büro anschließend eine Erklärung verbreiten, wonach Nordkorea tatsächlich Truppen nach Russland entsende.
Südkorea: Nordkorea schickt auch Spezialeinheiten
Dies sei eine „ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die internationale Gemeinschaft“ sei, auf die Südkorea mit allen verfügbaren Mitteln reagieren werde. Der Geheimdienst Südkoreas erklärte laut Agenturberichten, Nordkorea habe beschlossen, 12000 Soldaten nach Russland zu entsenden, darunter auch Spezialeinheiten. Demnach hat die Truppenverlegung bereits begonnen.
Aus Südkorea waren auch schon die ersten Hinweise auf die gefährliche Wende beim nördlichen Nachbarn gekommen. Wie viele von Kims Männern schon in Russland oder an der Front sind, ist bislang unklar. Als gesichert gilt, dass Ingenieure und technische Berater vor Ort sind, um den Einsatz der von Kim gelieferten Waffen überwachen und ihre Praxistauglichkeit im Krieg prüfen sollten. Inzwischen geht es aber um ganz andere Dimensionen.
Die „Washington Post“ berichtet gestützt auf ukrainische Geheimdienstquellen, schon „mehrere tausend“ Infanteriesoldaten seien in Russland in der Militärausbildung und könnten noch in diesem Jahr an die Front. Andere Informationen besagen, dass 3000 Nordkoreaner in einer russischen Luftangriffsbrigade ukrainische Streitkräfte hinter den Linien attackieren sollen – ein hochriskanter Einsatz für die unerfahrenen Kräfte aus Fernost, der aber russische Einheiten deutlich entlasten würde. Medien in Kiew, die sich ebenfalls auf Geheimdienstinformationen stützen, spekulieren sogar über Zehntausende Soldaten, die demnächst erwartet würden. Die Rede ist auch von 18 Nordkoreanern, die schon aus russischen Armeestellungen in Kursk und Brjansk nahe der ukrainischen Grenze desertiert seien.
Die Informationen alarmieren auch die US-Regierung. Man sei besorgt, sagt der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus, Sean Savett. Wenn sich die Informationen bestätigten, sei das eine bedeutende Steigerung der militärischen Zusammenarbeit zwischen Moskau und Pjöngjang. Die Entwicklung, fügt Savett hinzu, belege allerdings auch das Ausmaß der Verzweiflung in Moskau über die hohen Verluste im brutalen Krieg gegen die Ukraine. Die russische Regierung bestreitet indes bislang die Hilfe und spricht von „Falschmeldungen“.
Völlig überraschend kommt der Einsatz nicht. Bei ihrem jüngsten Treffen im Juni in Pjöngjang unterzeichneten Kim und Putin ein strategisches Partnerschaftsabkommen, in dem beide Seiten die Verpflichtung eingehen, sich im Fall eines Angriffs gegenseitig militärische Hilfe zu leisten. Schon bei der Unterzeichnung gab es Hinweise, dass Nordkorea die Entsendung einer Pioniereinheit in die Ostukraine plant. Putin hat das Partnerschaftsabkommen am 14. Oktober der russischen Staatsduma zur Ratifizierung vorgelegt. Es ist der nächste Schritt in einer seit Kriegsbeginn beobachteten Annäherung, die Putin und Kim gleichermaßen nutzt. Der Kremlherrscher braucht in seinem brutalen Abnutzungskrieg neben Soldaten dringend Waffen, die Nordkorea in großen Mengen produziert und hortet. Per Schiff und Eisenbahn hat Kim seit vergangenem Herbst 10.000 bis 13.000 Container mit Rüstungsgütern geliefert, darin nach südkoreanischen Geheimdienstschätzungen bis zu 5 Millionen Artilleriegeschosse. Hinzu kommen etwa ballistische Raketen, vor allem vom Typ Hwasong-11. Mit den Raketen hat die russische Armee in diesem Jahr wiederholt ukrainische Städte angegriffen und Dutzende Zivilisten getötet.
Auch wenn die Qualität des Rüstungsmaterials von westlichen Militärs als zweifelhaft beschrieben wird, hilft es Putin dennoch enorm. „Die Lieferungen sind ein entscheidender Beitrag zur Unterstützung Russlands im Ukraine-Krieg“, sagt die Militärexpertin Betty Suh von der Stiftung Wissenschaft und Politik (swp) in Berlin. Nordkorea erhofft sich im Gegenzug Luftabwehrsysteme und Technologiehilfe etwa für den Bau von Langstreckenraketen und Satelliten, aber auch eine Stabilisierung seiner Wirtschaft durch den Handel mit dem großen Partner. Mindestens ebenso wertvoll ist, dass Putin Kim dabei hilft, aus der internationalen Isolation auszubrechen, nachdem Annäherungsversuche zu den USA gescheitert waren. Russland tritt im UN-Sicherheitsrat jetzt auf die Bremse bei weiteren Sanktionen gegen Nordkorea, die wegen seines Atombombenprogramms drohen.
Dass Kim dafür bei Bedarf seine Bürger nach Russland zwangsverschickt, ist nichts Neues: Schon seit längerem müssen Arbeiter dort für Kims Regime Devisen verdienen, etwa als Holzfäller oder Bauarbeiter. Weil in Russland durch den Krieg Arbeitskräfte knapp werden, wurden Nordkoreaner auch schon für den Wiederaufbau zerstörter Fabriken im Donbass verpflichtet. Die Arbeitsbedingungen gelten als hart und gefährlich. Aber nichts dürfte für Kims geknechtete Landsleute so entsetzlich sein wie der Einsatz als Kanonenfutter in einem Krieg, mit dem sie gar nichts zu tun haben.