Kiew. Ein ukrainischer Soldat durchlebt Grauenhaftes in russischer Kriegsgefangenschaft. An seine große Liebe schreibt er nur elf Worte.
Hinter den Scheiben des Busses zieht die ukrainische Steppe vorbei. Alle Insassen wirken müde, erschöpft. Ein Mann mit kurzen dunkeln Haaren, die Wangen eingefallen, die Augen dunkel umrandet, eine blau-gelbe Fahne um die Schultern geschlungen, singt mit dünner Stimme ein Lied. „Ukraine“, ein schmachtend-patriotischer Song. In einer Zeile heißt es: „Unsere Kerze ist noch nicht ausgebrannt.“ Der Sänger im Bus heißt Kostyantyn Myrhorodskyi. Er kehrt nach Hause zurück. Nach 810 Tagen in russischer Kriegsgefangenschaft. Das Video von seiner Heimkehr ist Ende Mai entstanden.
Kiew, Ende Juli 2024: In der ukrainischen Hauptstadt herrscht Gluthitze. Die Cafés und Restaurants sind gut besucht, die Straßen voller Autos. Nicht immer gibt es Strom, weil die Russen in den vergangenen Monaten häufig die Infrastruktur attackiert haben. Ansonsten wirkt Kiew so geschäftig, als herrsche Frieden. In einem Hinterhof sitzen Kostyantyn Myrhorodskyi und seine Frau Anastasijia. Der junge Mann sieht besser aus als auf dem Video, er hat etliche Kilo zugelegt.
Myrhorodyskyi spricht schnell und viel. Er will der Welt erzählen, was ihm und anderen ukrainischen Gefangenen in russischer Kriegsgefangenschaft widerfahren ist. Es sind persönliche Schilderungen, die im Detail nicht überprüft werden können, sich aber mit den Berichten von anderen freigelassenen Kriegsgefangenen decken. Im März hatte die Menschenrechtsbeobachtungsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine (HRMMU) Misshandlungen ukrainischer Kriegsgefangener beklagt. Manches von dem, was in diesem Bericht steht, bezeugt auch Myrhorodyskyi.
In russischer Haft: 25 Mann in einer winzigen Zelle
Er stammt aus Klawdijevo-Tarssowe, einer Kleinstadt bei Kiew. Vor der russischen Invasion im Februar 2022 arbeitete der heute 40-Jährige als Berufstaucher, er trainierte unter anderem ukrainische Soldaten. Als Putins Truppen einmarschieren und auf Kiew vorrücken, meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst. Myrhorodyskyi wird nur spärlich bewaffnet in seinem Heimatdorf eingesetzt, er soll Informationen über russische Truppenbewegungen sammeln und melden. Die Russen haben Luftlandetruppen am Flughafen Hostomel abgesetzt, sie sind überall in der Region nördlich von Kiew. Es herrscht Chaos in diesen ersten Kriegstagen.
Am 14. März trifft Myrhorodyskyi mit zwei anderen Freiwilligen auf eine russische Patrouille. Sie tragen zivile Kleidung. Als die Russen militärische Spezialkarten auf seinem Telefon finden, wird er zur russischen Basis in Hostomel gebracht. „Da haben sie mich gefesselt und sehr intensiv befragt. Sie haben die Stricke immer fester gezogen, bis meine Beine hinter meinem Kopf waren.“ Die Qual dauert eineinhalb Stunden, dann verliert er das Bewusstsein.
Er bleibt acht Tage auf der Basis, eingesperrt in eine kleine provisorische Zelle, in der 25 Leute zusammengepfercht sind. In den Tagen nach seinem Verhör wird er nicht mehr gefoltert. Ein Freund aus einem Nachbardorf wird von Burjaten festgenommen. Das sind Soldaten aus dem fernen Osten Russlands, die auch für das Massaker von Butscha verantwortlich sein sollen. „Sie haben ihn gekreuzigt und mit Messern misshandelt“, erzählt Myrhorodyskyi. Schließlich wird er zusammen mit anderen Gefangenen über Belarus in die russische Region Brjansk nicht weit entfernt von der ukrainischen Grenze verlegt.
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Stress unter Gefangenen: Schlägereien um ein Stück Brot
Sie landen in einem alten, leer gezogenen Gefängnis, die Atmosphäre ist bedrückend. „Dort haben sie sofort angefangen, uns zu schlagen. Manchen sind sie auf den Kopf gesprungen, andere sind von Hunden gebissen worden. Sie haben uns unter enormen Stress gesetzt.“ Zur Bewachung der Kriegsgefangenen ist normales Justizpersonal eingesetzt, mit ihnen eingesperrt sind ukrainische Zivilisten. Die Kriegsgefangenen werden von Mitarbeitern des russischen Geheimdienstes FSB und Strafverfolgern befragt. Myrhorodysky hat sich mittlerweile als Soldat zu erkennen gegeben, großes Interesse entwickeln die Behörden nicht an ihm.
In den Wochen danach wird er, abgesehen von regelmäßigen Schlägen, nicht besonders schlecht behandelt. Anders ergeht es denjenigen, die aus der bis Mai 2022 umkämpften Hafenstadt Mariupol in das Gefängnis gebracht werden. Myrhorodyski hört, wie Gefangene mit Elektroschockern traktiert werden. „Das waren junge, starke Männer. Irgendwann haben sie gejault wie Hunde. Die haben sie zu Tieren gemacht.“ Im ersten Winter in Gefangenschaft ist es bitterkalt. Durch die Gitter weht Schnee in die unbeheizten Zellen, die Gefangenen haben nur dünne Kleidung und dünne Decken.
Besonders zu schaffen macht ihnen aber die Versorgung mit Lebensmitteln. Vor seiner Festnahme hat Myrhorodyski über 100 Kilo gewogen, in der Gefangenschaft verliert er 40 Kilo. „Der Hunger war die schlimmste Folter für mich. Manchmal gab es Schlägereien um ein Stück Brot.“ Die russischen Bewacher bieten den Gefangenen an, Kontakt mit ihren Familien aufzunehmen. Sie erhalten ein Stück Papier, auf das sie eine Botschaft schreiben sollen. „Ich bin am Leben, ich bin gesund, mir geht es gut.“ Es ist das einzige Lebenszeichen, dass Myrhorodyskis Frau während seiner Gefangenschaft von ihm erhält.
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Unter Bewachung: Wer Ukrainisch redet, wird bestraft
Im Mai 2023 wird Myrhorodyski zusammen mit anderen in ein Gefängniscamp in der Region Wladimir nördlich von Moskau verlegt. In dem Camp sind auch russische Kriminelle inhaftiert. „Das Essen war da schlechter als in Brjansk. Die besten Tage waren, wenn wir die Reste der russischen Gefangenen bekommen haben, da gab es manchmal Fette, Öl oder ein Stück Fleisch.“ Er und die anderen Gefangenen reden viel über Essen, über Filme, Musik. Wenn sie Ukrainisch reden, müssen sie flüstern. Wer Ukrainisch spricht, wird bestraft. Myrhorodyski singt viel für die anderen.
Ende Mai 2024 kommt die erlösende Nachricht. Nach langer Zeit gibt es wieder einen Gefangenenaustausch. Myrhorodyski ist dabei. „Ich musste ein Papier unterschreiben, in dem stand, dass ich gut behandelt worden bin.“ Er und andere Kriegsgefangene werden mit einem Flugzeug in die Nähe der ukrainischen Grenze transportiert, dann geht es mit Bussen weiter. Als sie endlich in der Ukraine ankommen, küsst Myrhorodyski den Boden. Im Bus singt er „Ukraine“.
Sie werden in ein Krankenhaus bei Sumy gebracht, mit seiner Frau Anastasia telefoniert er ständig. Er isst alles, was ihm in die Finger kommt. Anastasia trifft er nach einer Woche wieder. Sie erkennt ihn kaum, so dünn ist er geworden. „Wir haben geweint. Ich konnte nicht glauben, dass er es ist, aber es war seine Stimme, sein Geruch“, erinnert sie sich. Nach zwei Jahren, zwei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen ist Kostyantyn Myrhorodskyi wieder daheim. „Wir wollen jetzt ein Haus bauen und Kinder bekommen“, sagt er.
Bislang sind jeweils 3405 ukrainische und russische Kriegsgefangene ausgetauscht worden. Etwa 10.000 ukrainische Soldaten sollen noch in Gefangenschaft sein.
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