Berlin/Paris. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas über die Gefahr eines russischen Angriffs, die Stärkung der Nato und die Ukraine-Hilfe.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die Sorge in den drei baltischen Ländern besonders hoch. Estland, seit 2004 Mitglied in EU und Nato, hat eine mehr als 300 Kilometer lange Grenze mit Russland. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas antwortete auf die Fragen unserer Redaktion und der französischen Zeitung „Ouest-France“.
Frau Ministerpräsidentin, am 24. Februar hat Russland die Ukraine überfallen. Wie wirkt dieses Datum bei Ihnen nach?
Kaja Kallas: Der 24. Februar 2022 ist eine historische Wegscheide, die die Zeit in ein Davor und ein Danach einteilt. Estland und ganz Europa müssen die eigene Verteidigung stärken. Ich möchte allerdings betonen: Unsere Geheimdienste haben den Überfall Russlands auf die Ukraine für den 24. Februar vorausgesagt. Noch am Vorabend des Tages hatte ich gehofft, dass es nicht passieren würde – vergeblich.
Auch die Geheimdienste in den USA und Großbritannien haben prognostiziert, was geschehen würde. In Deutschland oder Frankreich hatte man bis zuletzt darauf gebaut, dass alles glimpflich ausgeht. Hat Sie das überrascht?
Kallas: Ich habe Verständnis dafür – wir sind alle nur Menschen. In Deutschland und Frankreich hat man auch gesehen, was wir gesehen haben. Aber sie haben es einfach nicht geglaubt. Das Problem ist: Wir alle haben die Lage durch die Brille eines demokratischen Landes betrachtet. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, dass ein Land etwas derart Schreckliches anrichten kann wie Russland.
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Wie besorgt sind Sie, dass Russland die baltischen Staaten angreifen könnte?
Kallas: Estland ist Teil der Nato. Die Frage lautet daher: Ist die Allianz besorgt, dass sie als Nächstes attackiert werden könnte? In Artikel 5 des Nato-Vertrags ist geregelt, dass ein Angriff auf ein Mitglied des Bündnisses ein Angriff auf alle ist. Eine Attacke Russlands auf die Allianz sehen wir nicht – diese Eskalation wäre zu weitgehend. Aber wir können natürlich nicht in den Kopf des russischen Präsidenten Wladimir Putin schauen.
Bekamen Sie irgendwelche Zusicherungen vom amerikanischen Außenminister Antony Blinken?
Kallas: Wir haben von verschiedenen Nato-Partnern Unterstützung bekommen. Unsere Verbündeten unterstreichen, dass Artikel 5 in Erz gegossen ist und dass jeder Quadratmeter Nato-Territorium geschützt wird. Jetzt ist es aber an der Zeit, Entscheidungen zu treffen.
Wir in Estland müssen uns vom Abschreckungs-Szenario, das bisher gegolten hatte, zu einem Verteidigungsplan bewegen. In diesen Verteidigungsplan müssen unsere Verbündeten einbezogen werden. Die Truppen müssen mobil sein und leicht von einem Ort zum anderen bewegt werden können. Dazu gehören auch gemeinsame Manöver.
Da die Nato-Russland-Akte von 1997 praktisch nicht mehr gilt: Wollen Sie, dass die Nato permanent Truppen in Estland stationiert?
Kallas: Ja, wir wünschen uns, dass aus der Nato-Stationierung auf Rotationsbasis eine fortlaufende Stationierung von Truppen wird. Und wir würden es begrüßen, wenn die bisherige Luftraumüberwachung über der Ostsee in ein System der Luftverteidigung münden könnte. Damit könnten im Zweifelsfall Militär-Jets, die in unseren Luftraum eindringen, auch abgeschossen werden. Wir müssen in der Lage sein, unser Territorium zu verteidigen.
Welche militärische Unterstützung erwartet Estland von der Nato allgemein – und welche Hilfe erwarten Sie speziell von Deutschland und Frankreich?
Kallas: Es geht uns nicht nur um die permanente Stationierung von Truppen, sondern auch um militärische Kapazitäten. Zentral ist die Luftverteidigung gegen Angriffe mit Langstreckenraketen. Diese Systeme sind für ein einzelnes Land zu teuer – hier müssen wir europäisch denken und Material beschaffen. Deutschland und Frankreich sollten sich hier weniger national als eben breiter, europäischer aufstellen.
Sind Sie dafür, dass die Nato oder einzelne Mitglieder des Bündnisses Offensivwaffen an die Ukraine liefert?
Kallas: Estland hat bereits im Januar entschieden, der Ukraine in jederlei Hinsicht zu helfen: humanitär, finanziell, mit Waffen – auch Offensivwaffen. Jetzt kommt es darauf an, dass Putin diesen Krieg unter keinen Umständen gewinnt. Wir müssen die Ukraine mit allem, was wir haben, unterstützen.
Das schließt auch die Lieferung von MiG29-Kampfflugzeugen aus sowjetischer Produktion ein?
Kallas: Unbedingt. Ich sehe in Europa den starken Willen, den Ukrainern unter die Arme zu greifen. Das hat sich mit dem 24. Februar total geändert, vor allem in Deutschland.
Amerika will polnische MiG29-Jets nicht über die Air Base im rheinland-pfälzischen Ramstein an die Ukraine liefern. Ist Washington da zu vorsichtig?
Kallas: Die USA haben die Ukraine bereits vor dem russischen Einmarsch großzügig unterstützt, auch mit Waffen. Die Frage ist natürlich: Mischt sich Amerika direkt in den Krieg zwischen Russland und der Ukraine ein? Das will Präsident Joe Biden offensichtlich nicht.
Können Sie sich eine Situation vorstellen, in der Putin ernsthaft den Einsatz von Atomwaffen erwägt?
Kallas: Putin spielt auf der Klaviatur unserer Angst. Er versteht genau, vor was sich unsere Gesellschaften fürchten. Unter meinen Fachleuten gehen die Meinungen auseinander. Die einen sagen, der russische Präsident instrumentalisiert unsere Ängste – mit dem Ziel, uns von zusätzlichen Waffenlieferungen an die Ukraine abzuhalten.
Die anderen Experten verweisen darauf, dass Putin all die verrückten Dinge, die er angekündigt hatte, auch umgesetzt hat. Ich würde nicht ausschließen, dass der Kremlchef unter Umständen auch eine nukleare Option ziehen könnte.
Sollte die Ukraine in die EU aufgenommen werden?
Kallas: Wie sollten den Ukrainern eine europäische Perspektive mit konkreten Schritten aufzeigen. Die Menschen dort kämpfen für Europa und seine Werte. Sie brauchen Hoffnung – die sollten wir ihnen geben.
Estland leidet besonders unter russischen Desinformations-Kampagnen. Was tun Sie dagegen?
Kallas: In Estland haben wir den Empfang von russischen Propaganda-Kanälen gesperrt. Wir haben aber alternative Rundfunkprogramme für die russischsprachige Minderheit in unserem Land eingeführt. Das sind unabhängige Quellen, über die angemessene Informationen über den Krieg in der Ukraine vermittelt werden.
Aber das ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Russische Propaganda-Kanäle können immer noch via Satellit empfangen werden. Ich denke, dass auch die großen Internet-Plattformen hier mitmachen müssen. Zusammen mit anderen Regierungschefs haben wir ein entsprechendes Schreiben an die Digitalkonzerne in den USA geschickt. Wir haben sie an ihre Verpflichtung erinnert, in dieser Frage sensibel zu sein.
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Estland ist ein Pionierland bei digitaler Technik. Wie wappnen Sie sich gegen Cyberattacken?
Kallas: Die Situation hat sich völlig verändert. In der Vergangenheit mussten Krankenhäuser lediglich aufpassen, dass bei ihnen kein Morphium gestohlen wird. Heute stehen sie in der Gefahr, dass ihre Infrastruktur lahmgelegt wird – Cyber-Attacken sind Teil des hybriden Kriegs von Russland. Unsere digitalen Verteidigungssysteme haben sich als widerstandsfähig erwiesen. Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass die Cyber-Angriffe in Zukunft noch härter werden.