Berlin. Russlands Krieg gegen die Ukraine wird von Tag zu Tag heftiger. Kann die russische Bevölkerung Putin zwingen, das Töten zu beenden?

Russlands Krieg in der Ukraine wird von Tag zu Tag heftiger. Angesichts der zunehmenden Bombardierung ukrainischer Städte und des anschwellenden Flüchtlingsstroms fragen sich viele: Wer kann Präsident Wladimir Putin noch stoppen? Ein Überblick.

Die russische Bevölkerung:

Am Wochenende gab es in mehr als 60 russischen Städten Proteste gegen den Ukraine-Krieg. Insgesamt wurden über 4000 Menschen verhaftet. Wer auf die Straße geht, setzt sich einem hohen Risiko aus. Neben einem satten Bußgeld drohen ihm oder ihr bis zu 15 Tage Haft, möglicherweise geht auch der Arbeits- oder Studienplatz verloren.

Proteste gegen Russlands Krieg: Wer auf die Straße geht, setzt sich einem hohen Risiko aus.
Proteste gegen Russlands Krieg: Wer auf die Straße geht, setzt sich einem hohen Risiko aus. © imago images/ITAR-TASS | Valentin Yegorshin via www.imago-images.de

Massenproteste sind in Russland sehr selten. Die Bevölkerung gilt als sehr leidensfähig. Nach den mutmaßlich gefälschten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2011 und 2012 kam es in mehreren Städten zu größeren Demonstrationen. Allein in Moskau waren mehr als 100.000 Menschen auf der Straße. Die Sicherheitskräfte schlugen die Proteste blutig nieder.

Demonstrationen in großem Stil sind nur denkbar, wenn es zu einer desaströsen Wirtschaftskrise mit Hyperinflation und Massenarbeitslosigkeit käme. Die ist aber nicht in Sicht. Die westlichen Sanktionen zeigen zwar Wirkung. So hat der Rubel rund ein Drittel seines Wertes eingebüßt. Zudem bilden sich vor den Bankautomaten lange Schlangen. Doch dies reicht, Stand ­heute, nicht aus, um Putin gefährlich werden zu können.

Das Militär:

Eine Aktion gegen Putin ist höchst unwahrscheinlich. Seit Sowjetzeiten wird das Militär durch die Geheimdienste kontrolliert, die dem Kremlchef treu ergeben sind. Spitzenmilitärs wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow werden in öffentlichen Fernsehbeiträgen immer wieder an langen Tischen zusammen mit Putin gezeigt. Sie stehen in besonderer Loyalität zum Präsidenten.

Die Geheimdienste:

Die Dienste sind sehr eng mit dem Regime verbunden. Sie teilen die Weltsicht des ehemaligen KGB-Offiziers Putin. Und sie profitieren auch in hohem Maße materiell von der gegenwärtigen Machtstruktur. So treiben Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB inoffiziell „Abgaben“ – eine Art indirekte Steuer – von Privatunternehmen ein. Einen Teil geben sie an ihre Vorgesetzten weiter, die das Gleiche mit der nächsthöheren Hierarchiestufe machen. Das System reicht bis hin zur Spitze. So entsteht eine Pyramide aus Abhängigkeiten, Macht und Reichtum.

Je mehr sich Putin über die Jahre isolierte, desto mehr Einfluss gewannen die „Silowiki“. Das sind Vertreter des Sicherheitsapparats aus Militär, Geheimdiensten und Polizei. Es ist schwer vorstellbar, dass sie nicht von Putins Kriegsplänen für die Ukraine wussten. Was sie eint, ist nicht nur ihre Treue zum Präsidenten und ihr reifes Alter – alle sind um die 70 Jahre alt. Sie wurden zudem in der Sowjetunion sozialisiert, viele wie Putin im damaligen Auslandsgeheimdienst KGB. Zur gemeinsamen Prägung gehört auch ihr antiwestliches Weltbild.

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Die Oligarchen:

Das sind Großindus­trielle in Russland, die im Dunstkreis des Kremls Milliarden Dollar angehäuft haben. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 entstand eine kleine Gruppe von Unternehmern, die frühere Staatsbetriebe geleitet haben oder Waren bei Staatsfirmen billig einkauften und auf dem freien Markt teuer verkauften. Zur ersten Generation zählt Michail Chodorkowski. Letzterer stieg unter Präsident Boris Jelzin auf und forderte später unter Putin die freie Marktwirtschaft ein. Dafür musste er bitter bezahlen. Chodorkowski wurde inhaftiert, sein Besitz beschlagnahmt, er selbst kam in ein Straflager. Kein Oligarch wird je vergessen, was passiert, wenn man sich Putin in den Weg stellt.

Zu den einflussreichen Oligarchen zählen heute die Chefs der Staatsholdings – zum Beispiel Alexej Miller vom Energiekonzern Gazprom oder Igor Setschin vom Ölriesen Rosneft. Nicht einer hat widersprochen, als Putin Eingeweihten kurz vor dem Angriff auf die Ukraine erklärte, was passieren würde.

Erst später kam vorsichtige Kritik. So schrieb Michail Fridman vom Finanzkonzern Alfa Group in einem Brief an Mitarbeiter von einer „Tragödie“. Der Bankier Oleg Tinkow von der Tinkoff-Bank schrieb bei Instagram, der Tod unschuldiger Menschen in der Ukraine sei inakzeptabel. Aber das sind Ausnahmen ohne Breitenwirkung. Gefährlich sind derlei Statements für Putin nicht. Die Oligarchen sind heute eher Handlanger des Systems. Und die Angst um Hab und Gut könnte sie auch enger mit Putin zusammenrücken lassen.

Dissidenten wie Nawalny:

Alexej Nawalny ist der prominenteste Oppositionspolitiker in Russland. Er überlebte 2020 einen Giftgasanschlag. Seit Januar 2021 sitzt er im Straflager, weil er Putin die Stirn bot. Aus dem Gefängnis heraus versucht Nawalny über die sozialen Netzwerke die Menschen in Russland wachzurütteln. Immer wieder ruft er zu Demonstrationen auf. Unter den Putin-Kritikern ist Nawalny sehr populär. Was dem 45-Jährigen fehlt, ist Massenwirkung.

Alexej Nawalny ist der prominenteste Oppositionelle und sitzt derzeit im Gefängnis.
Alexej Nawalny ist der prominenteste Oppositionelle und sitzt derzeit im Gefängnis. © AFP | ALEXANDER NEMENOV

Chinas Staatschef Xi Jinping:

Theoretisch hätte China als weltpolitisches Schwergewicht die Fähigkeit zur Vermittlung. Immerhin hat die Regierung in Peking vor der Ausweitung des Ukraine-Kriegs gewarnt und die Unverletzlichkeit der Grenzen angemahnt. Doch der Appell zur Diplomatie täuscht. Die Freundschaft zwischen dem chinesischen und dem russischen Volk sei „felsenfest“, betonte Chinas Außenminister Wang Yi am Montag. Es bleibe bei der „grenzenlosen“ Freundschaft, die Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping und Russlands Präsident Putin bei ihrem Treffen am 4. Februar in Peking besiegelt hätten.

Aus Chinas Sicht ist Putins Warnung vor der Nato-Osterweiterung berechtigt. Als Zeichen, wie eingekreist sich auch China fühlt, warf der Außenminister den USA vor, in Asien eine Verteidigungsallianz anzustreben: Peking sieht sich geostrategisch mit Moskau in einem Boot.

Fazit:

Derzeit gibt es keine Anzeichen, wie Putins Krieg gestoppt werden könnte. Weder in Russlands Bevölkerung noch im Militär oder in den Geheimdiensten gibt es Signale für nennenswerten Widerstand. Einzig eine drastische Verschlechterung der Wirtschaftslage könnte die Lage ändern.