Ankara. .
Die türkischen Gastgeber erwarten von Bundespräsident Christian Wulff Verbindendes zur Integrationsdebatte. Und Klärendes zum EU-Beitritt. Denn sie wissen um ihre geopolitische Bedeutung.
Zu einem heikleren Zeitpunkt könnte Bundespräsident Christian Wulff kaum in die Türkei reisen: Während sich in Deutschland die Politiker in der Zuwanderungsdebatte die Köpfe heiß reden, erwarten die Türken von Wulff während seines Besuchs, der noch vom Vorgänger terminiert worden war, klärende und verbindende Worte. Eines hat Wulff bereits ausgesprochen, als er am 3. Oktober feststellte, der Islam gehöre „inzwischen auch zu Deutschland“. Dafür gab es in der Türkei Lob und Anerkennung. Nach Gesprächen mit Staatspräsident Abdullah Gül und Regierungschef Tayyip Erdogan wird Wulff am Dienstag eine Rede vor dem türkischen Parlament halten, als erster Bundespräsident überhaupt.
Der Auftritt in der Großen Nationalversammlung ist der Höhepunkt der fünftägigen Reise, an ihm wird man Erfolg oder Misserfolg messen.
Engagement für Religionsfreiheit
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Wulffs Rede muss die ganze Bandbreite der deutsch-türkischen Beziehungen behandeln. Manche der Themen standen schon vor zehn Jahren bei der Türkeireise des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau auf der Tagesordnung: die Frage etwa, wie die Türkei mit ethnischen Minderheiten wie den Kurden umgeht oder wie sie es mit der Religionsfreiheit für Nicht-Muslime hält. Wulff unterstreicht sein Engagement für die Christen in der Türkei am Donnerstag mit einem Besuch in der Paulus-Kirche im südtürkischen Tarsus, wo er Vertreter christlicher Gemeinden trifft und an einem ökumenischen Gottesdienst teilnimmt.
Religionsfreiheit und Minderheitenrechte spielen auch in der Diskussion um die EU-Perspektive der Türkei eine wichtige Rolle. Immerhin ist seit Raus Besuch einiges in Bewegung gekommen: Die kurdischen Sprachverbote wurden gelockert, Erdogan verspricht der Minderheit mehr politische und kulturelle Rechte, wenngleich der Weg zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts noch lang ist.
Kirchen wieder geöffnet
Im Umgang mit anderen Religionsgemeinschaften signalisiert Ankara ebenfalls Entgegenkommen: Christliche Kirchen wurden wieder geöffnet, Erdogan selbst traf sich vergangenes Jahr mit jüdischen und christlichen Geistlichen, um sich ihre Sorgen anzuhören. Die Todesstrafe, deren Abschaffung Rau noch vor zehn Jahren anmahnte, gibt es nicht mehr. Auch Folterpraktiken wurden eingedämmt und schärfer geahndet. Und noch etwas hat sich geändert: Das geopolitische Gewicht der Türkei ist in den vergangenen zehn Jahren immens gewachsen.
Diplomatisches Geschick verlangt das Thema EU. Europaminister Egemen Bagis beklagte erst kürzlich „Intrigen“ bei den Beitrittsverhandlungen, und Premier Erdogan forderte die EU-Staaten heraus: „Wenn ihr die Türkei nicht wollt, dann haltet uns nicht hin, sondern sagt das offen!“ Die türkischen Politiker wissen zwar, dass der Bundespräsident sich in dieser Frage nicht verbindlich äußern kann; umso genauer werden sie aber auf jede Nuance in seiner Rede achten.
Restriktive Visa-Praxis
Am Mittwoch stehen wirtschaftliche Fragen im Mittelpunkt: Im zentralanatolischen Kayseri wird Wulff am Deutsch-Türkischen Wirtschaftsforum teilnehmen. Rund 4200 Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung gibt es bereits in der Türkei – ein eindrucksvoller Beweis für die immer engeren Wirtschaftsbeziehungen beider Länder. Überschattet werden sie aber von zunehmenden Klagen über die restriktive Visa-Vergabe für türkische Geschäftsreisende, die Deutschland besuchen wollen. Viele türkische Unternehmer empfinden die Visa-Prozeduren als erniedrigend. Die Deutsch-Türkische Industrie- und Handelskammer fürchtet, dass Deutschland wegen seiner restriktiven Visa-Praxis weniger als viele Mitbewerber am Aufschwung der türkischen Wirtschaft partizipieren werde.
Zum Abschluss des Besuchs legt Wulff am Freitag den Grundstein der Deutsch-Türkischen Universität im Istanbuler Stadtteil Beykoz – ein endlich in Gang kommendes Projekt, das beide Länder einander näher bringen soll.