Berlin. .

Das Wegsperren von Extrem-Kriminellen, die ihre Haftstrafe für ein Verbrechen schon verbüßt haben, ist eine rechtsstaatlich sensible Angelegenheit. Denn ohne eine konkrete Straftat und ohne ein abschließendes Urteil, so lautet ein Grundsatz im deutschen Recht, soll niemand im Gefängnis bleiben müssen.

Andererseits hat der Staat eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Bürgern, wenn es etwa um Mörder oder Sexualstraftäter geht, bei denen nicht unwahrscheinlich ist, dass sie nach ihrer Haft erneut einen Menschen töten oder missbrauchen könnten. In diesem Spannungsfeld bewegt sich der seit Tagen mit zunehmender Vehemenz geführte Streit innerhalb der schwarz-gelben Regierungs­koalition um die Sicherungsverwahrung. Ein Überblick:

Wodurch ist der Konflikt entstanden?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat im Dezember 2009 entschieden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen das Rechtsstaatsprinzip „Keine Strafe ohne Gesetz“ und damit gegen die Menschenrechte verstößt. Nachträglich bedeutet nach Lesart der EU-Richter ein lebenslanges Wegsperren, ohne dass der Betroffene nach Erfüllung seiner Haftstraße eine neue, schwere Straftat begangen hat.

Wichtig: Straßburg hat sich nur gegen die „nachträgliche“ Sicherungsverwahrung gestellt. Dass ein Gericht bereits bei der Verurteilung eines Schwersttäters die Sicherungsverwahrung anordnen oder per „Vorrats­beschluss“ vorbehalten kann, gehe dagegen in Ordnung.

Durch das EU-Urteil müssen bundesweit etwa 80 Straftäter auf freien Fuß gesetzt werden. Insgesamt gibt es in Deutschland bei 70 000 Strafgefangenen derzeit 500 Verurteilte, die in Sicherungsverwahrung leben.

Was geschieht bei eventuell Rückfallgefährdeten, die jetzt freikommen?

Sie werden entweder per elektronischer Fußfessel ­kontrolliert oder rund um die Uhr von der Polizei beschattet. Letzteres erfordert pro ­Ex-Straftäter am Tag 20 bis 25 Einsatzkräfte, was die Polizeigewerkschaften aufstöhnen lässt. Die Fußfessel gilt unterdessen nur als Mittel zur Über­wachung. Straftaten, darin sind sich Justizexperten über die Parteigrenzen hinweg einig, könnten damit nicht ­verhindert werden.

Rührt daher der Vorstoß des Bundesinnenministers, eine geschlossene Einrichtung für entlassene Sicherheits­verwahrte zu bauen?

Ja. Thomas de Maizière (CDU) glaubt damit der Vor­gabe des Straßburger Gerichts zu entsprechen. Das hat eine klare Trennlinie zwischen Strafhaft und Sicherungsverwahrung gezogen; zwischen Knast also und Hochsicherheitsheim.

Warum findet der Vorstoß bei der FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger keinen Anklang?

Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger             Foto: Imago
Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger Foto: Imago © imago stock&people

Leutheusser-Schnarrenberger ist der Über­zeugung, dass die 80 sogenannten Altfälle, die von dem Straßburger Urteil betroffen sind, nicht gezwungen ­werden können, in eine ­freiheitsentziehende Einrichtung zu gehen. Dass sie allesamt freiwillig gehen, hält sie für abwegig.

Was will die liberale ­Politikerin stattdessen?

Für die Altfälle will sie die Fußfessel und eine Polizei­observierung. Generell will sie – was bislang im Kabinett auch Konsens war – die nachträg­liche Sicherungsverwahrung abschaffen und die Aus­weitung der im Urteil vor­behaltenen Sicherungsverwahrung forcieren. Sie bewegt sich damit vollständig auf dem Boden des Straßburger Urteils, das für die EU-Mitgliedsstaaten bindend ist.

Ihre Begründung: Die im Jahr 2004 in Deutschland gesetzlich eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung sei kaum praxistauglich und daher erst in einem ­Dutzend Fälle angeordnet worden. Eine Reform im Sinne von Leutheusser-Schnarrenberger würde die Gerichte dazu zwingen, sich sehr früh und umfassend mit der Gefährlichkeit der Täter und etwaigen Rückfalltendenzen zu befassen. Das Gewicht von Gutachtern, die solche ­Prognosen abgeben, würde enorm steigen.

Warum poltern vor allem Unionsvertreter dagegen?

Die Union tut so, als könne sie das EU-Urteil schlicht ­ignorieren. Sie will auch ­weiterhin eine nachträgliche Sicherungsunterbringung von gefährlichen Straftätern nach Haftende möglich machen, obwohl sie im Kabinett im Juni noch anders entschieden ­hatte.

Wie geht der Streit weiter?

Notfalls haben die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel (CDU) und die Chefs von FDP und CSU, Guido Westerwelle und Horst Seehofer, das letzte Wort. Ende August machen aber noch einmal die Fachminister von Justiz und Innen sowie die Fachleute der Bundestags­fraktionen von CDU/CSU und FDP einen Anlauf, um die Kuh vom Eis zu kriegen. ­Prognose: schwierig.