Berlin. NRW-Ministerpräsident und CDU-Vize-Vorsitzender Jürgen Rüttgers verteidigt die Einigung von Union und FDP. Er lässt aber auch durchblicken, dass die NRW-Partei ihren Einfluss geltend machte. Ein Interview über Ergebnisse und Pannen bei den Koalitionsverhandlungen.
Herr Rüttgers, nun tauscht Frau Merkel die SPD-Minister durch Liberale aus, war es das?
Jürgen Rüttgers: Nein, jetzt machen wir Politik für Wachstum und soziale Sicherheit gleichzeitig, für die Menschen. Es wird keine soziale Kälte geben. Das Etikett „neoliberal" für diese Koalition war daher immer nur ein Kampfbegriff. Es gibt keinen radikalen Wechsel, keine Brüche.
Ist Frau Merkel zu beneiden oder muss man Mitleid mit ihr haben?
Rüttgers: Es sind schwierige Zeiten. Die Krise ist noch nicht zu Ende. Wir haben die Chance, das Land so fit zu machen, dass wir aus der Krise stärker hervorgehen und dass wir vor allem mit unserer Industrie im internationalen Wettbewerb erfolgreich bleiben.
Wo war der kritische Punkt in den Verhandlungen?
Rüttgers: Die Finanzierung der Steuerentlastungen. Was man macht, muss bezahlbar sein.
Da mussten Sie die FDP von Wolke sieben holen?
Rüttgers: Wir haben zusammen gelernt, dass wir Kompromisse eingehen müssen, dass vor allem alle gewünschten Steuersenkungen nicht in einem Schritt zu finanzieren sind.
Woher kommt das Geld?
Rüttgers: Der Abschwung ist voraussichtlich nicht so schlimm wie befürchtet. Das eröffnet Spielräume. Aber wir müssen auch sparen, zum Beispiel durch Bürokratieabbau und durch Erhöhung der Produktivität.
Das reicht ja wohl nicht. Bekommen wir nicht eine Steuerreform auf Pump?
Rüttgers: Für eine Zwischenphase geht es in die Verschuldung rein. Aber über ein höheres Wachstum wird sich die Steuerreform mittelfristig maßgeblich finanzieren.
Die Trennlinie ging auch zwischen Bund und Ländern, oder?
Rüttgers: Die Reform muss auch auf der Landesebene bezahlbar sein. Da haben wir aber einen guten Kompromiss erzielt.
Sind Sie sicher, dass die Sozialbeiträge nicht erhöht werden?
Rüttgers: Es soll durch die Politik keine Beitragserhöhungen geben. Sollte es zu einem ungebremsten Kostenanstieg kommen, zum Beispiel bei der Gesundheit, ist das Sache der Versicherer.
Bei der Finanzierung der sozialen Systeme haben sie zum Schluss die Linie verloren. Erst gab es einen Fonds, dann nicht. Haben Sie das noch verstanden?
Rüttgers: Zugegeben, es war ziemlich holprig. Da sind auch Pannen passiert. Aber die sind umgehend korrigiert worden.
Im Ergebnis ist die Kontinuität frappierend. Will die Union jetzt den SPD-Part übernehmen und die SPD völlig überflüssig machen?
Rüttgers: Glauben Sie mir: Ich empfinde keine Schadenfreude darüber, dass die SPD ein so katastrophales Ergebnis bei der Bundestagswahl erzielt und den Charakter einer Volkspartei verloren hat. Aus dem Identitätsverlust der SPD ergibt sich für die CDU eine große Verantwortung. Wir müssen den Johannes-Rau-Wählern, die von der Annäherung der SPD an die Linke abgeschreckt werden, eine politische Heimat geben.
Nun haben Sie den Rücken frei für NRW. Der größte Vorzug der Koalition?
Rüttgers: Mir ging es – und zwar über Nordrhein-Westfalen hinaus – darum, dass wir als Koalition ein Fundament für eine Politik der Mitte legen. Ich habe dafür gekämpft, dass soziale Zumutungen ausbleiben, die Interessen der Arbeitnehmer gewahrt werden.
Im Klartext, bitte!
Rüttgers: Keine Einschränkung bei Mitbestimmung und beim Kündigungsschutz. Höheres Schonvermögen und höhere Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger. Gerade auf Drängen der Landes-CDU soll jeder, der lebenslang zu einem geringen Einkommen einer geregelten Arbeit nachgegangen ist, auch eine Rente bekommen, die über dem Hartz-IV-Satz liegt. Den bekommt nämlich jemand, der nicht gearbeitet hat.
Dafür riskieren Sie bei der Atompolitik einen neuen gesellschaftlichen Konflikt.
Rüttgers: Einspruch. Wir bauen keine neuen Atomkraftwerke. Wir wollen mehr Effizienz und die erneuerbaren Energien ausbauen. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Mit der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke als Brückentechnologie gewinnen wir Zeit. Und für Nordrhein-Westfalen ist auch entscheidend, dass die Kohleverstromung erhalten wird.