Gelsenkirchen. Zahar Audi (23) aus Gelsenkirchen hat geschafft, was vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenenen verwehrt bleibt: den Bildungsaufstieg
Die Chancen von Kindern im Leben sollten unabhängig von ihrer sozialen Herkunft sein, heißt es. Sind sie es? Ganz bestimmt nicht. An diesem Montag wird der neue „Chancenmonitor“ des ifo-Institutes beleuchten, wie ungerecht es in Deutschland und in NRW noch immer bei der Bildung zugeht. Für viele, die keine wohlhabenden Eltern mit akademischem Hintergrund haben, liegen in der Karriere-Lotterie bloß Nieten. Manchmal und unter besonderen Bedingungen klappt es aber doch mit dem Bildungsaufstieg, wie das Beispiel von Zahar Audi (23) aus Gelsenkirchen zeigt. Hier ist ihre Geschichte.
„Ich wäre gerne mal nach Duisburg gefahren oder ins Centro nach Oberhausen“
Der Stadtteil Schalke war in Kindheit und Jugend Zahar Audis kleine Welt. „Ich war immer in Schalke. Ich kannte nur Schalke. Ich wäre gerne mal nach Duisburg gefahren oder ins Centro nach Oberhausen“, erinnert sich die die junge Frau, die in Gelsenkirchen geboren wurde und deren Eltern aus dem Irak stammen. In der Realschule kam sie gut zurecht, aber von einer besonderen Berufslaufbahn wagte Zahar nicht zu träumen.
„Ich war, wie viele in meinem Alter, etwas orientierungslos. Abitur, das hörte sich so weit entfernt an, obwohl meine Noten stimmten. Es fehlte der Kick, es fehlte jemand, der mich an die Hand nimmt“, erklärt sie. Sie blickt heute gelassen auf diese Zeit zurück. Zahar Audi ist nämlich die Erste in ihrer Familie, die „den akademischen Weg geht“, wie sie sagt. Die heute 23-Jährige studiert in Essen im sechsten Semester Sozialwissenschaften und Germanistik auf Lehramt. Sie berät auch Kinder und Jugendliche, denen die guten Lebenschancen nicht schon in die Wiege gelegt wurden.
Zahar Audi: „Wir starten nicht alle an derselben Linie“
„Wir starten nicht alle an derselben Linie“, weiß Zahar. Ihre Familie ist zwar nicht bildungsfern, aber eine von vielen, für die das komplizierte Bildungssystem in NRW mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. Wie will man da seinen Platz finden?
Zahar Audis Mutter besuchte im Irak die Schule bis zur fünften Klasse. Sie lernte in Gelsenkirchen schnell Deutsch und engagiert sich heute ehrenamtlich als Übersetzerin für Kurdisch, Arabisch und Albanisch sowie als Integrationshelferin für Schulkinder. Daheim in Schalke wurde in der Familie stets darauf geachtet, dass Zahar und ihre beiden Brüder deutsch sprachen. Eine gute Grundlage sei das gewesen, findet Zahar Audi. Aber für den Erfolg brauche es mehr als das.
Wichtige Weichenstellung im Gelsenkirchener Jugendtreff „Amigonianer“
Mit 13 Jahren entdeckt Zahar den Schalker Jugendtreff „Amigonianer“, in dem sie viel Zeit mit Gleichaltrigen verbringt. Und hier, mitten im einer für das Revier typischen Kulisse, geschieht um 2017 herum etwas Entscheidendes im Leben der Jugendlichen: Eine Betreuerin reicht ihr einen Flyer des „Ruhrtalente“-Schülerstipendienprogrammes: „Wär‘ doch was für Dich, oder? Hast ja gute Noten.“ Das war der noch fehlende „Kick“, das Signal zum Aufbruch.
„Es ist hilfreich, einen Mentor, einen Wegbegleiter zu haben. Einen, der dich an der Hand nimmt, den du immer fragen kannst“, sagt Zahar. Sie hat eine Wegbegleiterin: Pia Boldt, Talentscout von der Westfälischen Hochschule.
Schoko-Ticket als Fahrschein in die Welt jenseits von Schalke
Zahar wird ab 2018 vom NRW-Zentrum für Talentförderung unterstützt, bekommt zunächst einen Laptop, einen Drucker und ein Schoko-Ticket. Der Fahrschein ist keine Kleinigkeit für die damals 17-Jährige, die kaum je aus Schalke herausgekommen war. Das Ticket hebt unsichtbare Schlagbäume. Zahar erfährt: Jenseits von Bismarck- oder Florastraße endet die Welt nicht etwa, sie fängt dort erst an.
Unterstützt von der Talentförderung wechselt Zahar von der Real- auf die Gesamtschule, macht kurz vorm Abi eine Englisch-Sprachreise nach Malta („Das hätte ich mir privat nie leisten können“), besteht die Abiturprüfung und schreibt sich an der Uni Duisburg-Essen ein. Sie hat in Workshops gelernt, wie man sich vor einer Gruppe präsentiert, wie man Teil eines großen Netzwerkes wird, das beim Klettern über Hindernisse Stürze abfedert.
Talentförderung in NRW
Seit 2014 fördert das NRW-Wissenschaftsministerium eine in der Bildungslandschaft bundesweit einzigartige Institution: das NRW-Zentrum für Talentförderung mit Sitz in Gelsenkirchen. Hier werden Talentscouts ausgebildet, die von ihrer Hochschule aus Schülerinnen und Schüler beraten und auf ihrem Weg ins Studium oder in die Berufsausbildung begleiten.
Mehr als 100 NRW-Talentscouts begleiten an rund 550 Berufskollegs, Gesamtschulen und Gymnasien etwa 30.000 junge Talente auf ihrem Weg in Ausbildung und Beruf. 23 Hochschulen kooperieren mit dem NRW-Talentscouting.
„Wir sind nah dran an den Jugendlichen“, sagt Talentscout Pia Boldt von der Westfälischen Hochschule. Oft fehle den jungen Talenten das Selbstbewusstsein. Sie ermutigt, berät zu Ausbildung, Studium und FSJ, und sie ebnet den Weg in Stipendien und in Kurse, die Jugendliche zum Beispiel in Mathe, Deutsch und Informatik fit machen.
Der Aufstieg gelingt, wenn man es will -- und wenn andere einem dabei helfen
Was braucht es also, um die Chancenungleichheit in der Bildung trotz mäßiger Startchancen zu überwinden? Neben Mut, Selbstbewusstsein, Neugier und Experimentierfreude ist es wohl vor allem die helfende Hand, ein Wegweiser, ein Ansprechpartner. Fast alle, die Weg nach oben trotz der vielen Aufstiegs-Barrieren schafften, hatten solche Mentoren in ihrer Nachbarschaft. Die frühere Integrations-Staatssekretärin Serap Güler (CDU), Tochter eines Bergmanns aus Marl, zum Beispiel. Oder der Vorsitzende des Landtags-Petitionsausschusses, Serdar Yüksel (SPD) aus Wattenscheid.
Zahar Audi hat von der Förderung durch das NRW-Zentrum für Talentförderung profitiert. Dessen Angebote werden seit Jahren ausgeweitet. Dennoch bleiben noch viele Talente unentdeckt, wie der neue „Chancenmonitor“ am Montag einmal mehr belegen dürfte.
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