Düsseldorf. Der SPD-Landtagsabgeordnete Serdar Yüksel (47) aus Wattenscheid hat, was vielen Genossen heutzutage fehlt: Malocher-Erfahrung. Ein Porträt.

„Ich bin der Meinung, dass ich ein echter truly Sozialdemokrat bin“, sagte Olaf Scholz bei der Castingshow um den Parteivorsitz, als er Zweifel an seiner Haltung zerstreuen wollte. Das Problem: Nirgendwo steht geschrieben, was einen Sozialdemokraten ausmacht, und die Klärung, was ein echter Christdemokrat oder Liberaler ist, wäre ähnlich kompliziert. Serdar Yüksel, Landtagsabgeordneter aus Wattenscheid dürfte dem „truly Sozialdemokrat“ aber sehr nahe kommen.

Denn der 47-Jährige Yüksel hat Erfahrungen gemacht, die eine alte Arbeiterpartei honorieren muss: Schichtarbeit und Stress mit Kollegen, die sich aufeinander verlassen müssen, weil ein Fehler über Leben und Tod entscheidet. Was sich liest wie die Stellenbeschreibung eines Bergmanns, ist hier die eines Intensivpflegers im Krankenhaus.

Oktober 2018: Yüksel wird zum Lebensretter im Landtag

Am 31. Oktober 2018 ging eine Nachricht über Serdar Yüksel um die halbe Welt: „Türkeistämmiger SPD-Abgeordneter rettet AfD-Mitarbeiter das Leben“. Zusammen mit der FDP-Abgeordneten und Krankenpflegerin Susanne Schneider holte er einem wissenschaftlichen Mitarbeiter der AfD-Fraktion, der im Gesundheitsausschuss des Landtags mit einem Herzstillstand zusammengebrochen war, ins Leben zurück. Der Hype um die Rettung war dem Retter fast unheimlich. Susanne Schneider wollte damit überhaupt nicht in die Öffentlichkeit. Erst jetzt, fast zwei Jahre danach, ließ sie sich von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) ehren.

Die kuriose Nachricht überdeckte etwas Bemerkenswertes: Dass in einem Parlament voller Akademiker, Parteigewächsen und Verwaltungsexperten immer noch Menschen sitzen, die die Härten eines normalen und dürftig bezahlten Erwerbslebens kennengelernt haben. Zum Beispiel in Krankenhäusern. „Intensivpfleger retten immer wieder Menschenleben. In den Kliniken arbeiten viele stille Helden, die niemals Aufmerksamkeit dafür bekommen“, erzählt Yüksel.

Schlechte Erfahrungen im Regionalexpress

Der SPD-Fraktion des Landtags gehören viele Akademiker an. Juristen sind stark vertreten, Wissenschaftler, Verwaltungsangestellte. Der klassische Malocher, der auch die Schattenseiten des Lebens kennt, ist rar. Der Abgeordnete Josef Neumann aus Wuppertal zählt zu den Ausnahmen, ein Handwerker und Heilerziehungspfleger, Ex-Geschäftsführer einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Neumann kennt die Sorgen und Nöte von Menschen, die nicht immer so funktionieren, wie es Eliten gerne hätten. Serdar Yüksel hat einen ähnlichen Erfahrungsschatz, abgerundet durch die Erlebnisse, die ein Mensch, dessen Eltern aus der Türkei zugewandert sind, in diesem Land so macht.

Neulich am Bahnhof Düsseldorf: Der Landtagsabgeordnete Yüksel steigt in den Regionalexpress nach Wattenscheid und betritt die 1. Klasse. Ein Schaffner schaut ihn gleich misstrauisch an und ruft: „Hier ist die 1. Klasse. Zisch ab in die 2.“ Respektloses Duzen, hässliche Sprüche – Jeder Mensch „mit Migrationshintergrund“ kennt das. Einige verzweifeln daran und resignieren.

Ehrlicher Finder wird als Dieb beschimpft

Serdar Yüksel hat mal, als er 13 war, eine gefundene Jacke zum Fundbüro gebracht. Die Frau im Rathaus beschuldigte ihn und einen Freund daraufhin, das Kleidungsstück geklaut und auf Finderlohn spekuliert zu haben. Mit einem emotionalen Cocktail aus Zorn, Ohnmacht und Verzweiflung erzählte er seiner „deutschen Oma“ Katharina Peters von dieser Demütigung. Die Dame riet dem Jungen, zur Zeitung zu gehen und die Geschichte einem Redakteur zu erzählen. Und tatsächlich stand am Wochenende in der WAZ die Geschichte von dem ehrlichen Finder, der zum Dieb abgestempelt wurde. Die Frau vom Fundbüro musste sich entschuldigen und Serdar hatte gelernt, dass man nicht alles runterschlucken muss.

In der vergangenen Woche geriet Yüksel mit seinem Fraktionschef Thomas Kutschaty aneinander. Dem Anwärter auf den SPD-Landesvorsitz gefiel nicht, dass Yüksel den Rücktritt des Essener Polizeipräsidenten Frank Richter, ebenfalls SPD, gefordert hatte, in dessen Behörde Polizisten mit rechtsextremen Chats aufgefallen waren. Richter sei „nicht mehr zu halten“, sagte Yüksel. Richter steht zudem in der Kritik, weil in einer Broschüre zur Clan-Kriminalität, für die er mitverantwortlich ist, Clan-Mitglieder pauschal als Kriminelle dargestellt werden. Yüksel erkennt darin „Rassismus“. Seine Meinung zu Richter hat er nicht geändert.

Nach dem Tod des Vaters wurde das Geld in der Familie knapp

Serdar Yüksels Vater Imam war 1964 aus Tonceli, Ostanatolien, in Ruhrgebiet eingewandert. Die Mutter folgte 1969. „Mein Elternhaus war liberal, alevitisch-kurdisch geprägt, aber nicht betont religiös“, sagt Yüksel. Sein Vater war 30 Jahre lang Stahlarbeiter und Hochdruckschleifer bei Thyssenkrupp, engagierte sich in der IG Metall-Mitglied, war ein Bewunderer von Willy Brandt und Helmut Schmidt. 1994 zerbrach das Familienglück. Der Vater starb plötzlich, während der Frühschicht. Mutter Imos bekam 480 Mark Witwenrente, ging fortan morgens und abends putzen. Das jüngste ihrer sieben Kinder war damals sieben, das Älteste 24. Bei den Behörden um Geld bitten, das wollte die Witwe nicht. „Alte Arbeiterweisheit: Das Geld kommt nicht vom Amt“, sagt Yüksel. Also legte die Familie zusammen, um über die Runden zu kommen.

Serdar Yüksel ist damals 20. Sein Lehrgeld als Pfleger fließt zu einem großen Teil in die Familienkasse. Inklusive Lehrzeit arbeitet Yüksel 19 Jahre lang im Krankenhaus, zuerst in Wattenscheid, dann im Marienhospital in Gelsenkirchen als Intensivpfleger. Zuletzt macht er fast ausschließlich Nachtschichten: „Ich habe von 20.20 bis 6.30 Uhr, gearbeitet, bin dann zur Vorlesung an der Evangelischen Fachhochschule Bochum, und an vielen Abenden ging ich in den SPD-Ortsverein.“ Woher kam dieser Ehrgeiz? „Vielleicht liegt es daran, dass man sich als Pfleger der Endlichkeit des eigenen Lebens ständig bewusst ist. Daraus resultiert wohl auch meine Ungeduld“, erklärt der Abgeordnete, der im Landtag den Petitionsausschuss leitet.

Auf die andere Seite der unsichtbaren Grenze

Ungeduld und Neugier treiben ihn auch an einem für sein Leben entscheidenden Tag Mitte der 1980-er Jahre an. Damals steht der elfjährige Serdar Yüksel in Wattenscheid am Watermanns Weg, wo er lebt, und schaut rüber auf die andere Seite. „Es gab in der Mitte dieser Straße eine unsichtbare Grenze, die die Menschen nicht überschritten“, erzählt er. Auf der einen Seite lebten die Zugewanderten, auf der anderen die Ureinwohner. An jenem Tag nimmt Yüksel seinen Mut zusammen und geht, von Neugier getrieben, einfach rüber zu denen, die anders sprechen, die prächtige Gardinen hinter den Fenstern haben, sich anders kleiden und Speisen essen, die er nicht kennt. Das Experiment geht gut. Er lernt: Die Leute auf der anderen Seite sind nicht unfreundlich.

Jenseits der „Grenze“ lernt er Menschen kennen, denen er viel verdanken wird. Nicht wenige beruflich erfolgreiche Menschen „mit Migrationshintergrund“ erzählen vergleichbare Geschichten von Nachbarn, die sie gefördert haben. Serap Güler (CDU), zum Beispiel, Integrations-Staatssekretärin in der Landesregierung, hatte eine „Ersatzoma“ namens Christa.

"Ersatzgroßeltern" Katharina und Heinrich

Serdar Yüksels „Ersatzgroßeltern“ hießen Katharina Peters, Jahrgang 1908, und Heinrich Schnell, Jahrgang 1914, ein Kriegsversehrter. Der deutsche „Opa“ bringt den kleinen Serdar Stenografie und Schreibmaschinenschreiben bei, Frau Peters verwöhnt den Jungen mit Gulasch, Knödeln und Rotkohl. Die beiden Senioren unternehmen mit dem Jungen von gegenüber lange Ausflüge in die deutsche Geschichte, erzählen von Inflation, Hungerwintern, von der Ruhrbesetzung. Bücher und Zeitschriften liegen in ihren Wohnungen, und der Junge vertieft sich in die Lektüre.

Mit 13 Bewerbungsbrief an die SPD

Diese Geschichten und die Haltung des Vaters lassen in dem jungen Mann den Wunsch reifen, in die SPD einzutreten. Mit 13 Jahren schreibt er einen Brief ans Erich-Ollenbauer-Haus, die frühere SPD-Parteizentrale in Bonn. Yüksel schickt einen Antrag auf Parteieintritt ab mit zwei Seiten Begründung. Die Antwort ist frustrierend: Sozialdemokrat könne er erst mit 15 werden. Serdar Yüksel hakt das Kapitel Partei für sich ab. Bis zwei Jahre später, am 1. April 1989, der Ortsvereinskassierer Heinrich Wolter an der Tür der Yüksels klingelt, ein untersetzter Mann Ende 50 mit Lederweste und nach hinten gekämmtem weißem Haar. Dieser kräftige Typ steht auf einmal im Hausflur und ruft: „Genosse! Willkommen in der SPD!“

Damals, in den 1980-ern, war die SPD in Wattenscheid eine Institution. „Die Partei veranstaltete Spielplatzfeste, wo wir Kinder ,CDU- alte Kuh, lass die SPD in Ruh' sangen. Das war die Partei für die Arbeiter und die kleinen Leute. Ihr Personal war nicht in Talkshows, sondern vor Ort bei uns“, erinnert sich Yüksel.

"Viele Sozialdemokraten sprechen nicht mehr die Sprache, die verstanden wird.“

Viel ist passiert seitdem. Mit den Stadtteilen und mit der SPD. Der SPD-Ortsverein Wattenscheid hatte Ende der 1980-er Jahre noch 2600 Mitglieder, heute sind es nur noch 500. Der Niedergang, findet Yüksel, ist zum Teil selbst verantwortet. „Wir sind nicht mehr die Projektionsfläche für die normalen Leute. Viele Sozialdemokraten sprechen nicht mehr die Sprache, die verstanden wird.“ Die Lebenswirklichkeit der Pfleger, Erzieher, Paketzusteller sei inzwischen weit entfernt von der mancher Repräsentanten der Partei. Ganze Stadtteile im Ruhrgebiet seien sich selbst überlassen worden. Die Hartz-Gesetze unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder bezeichnet Yüksel als „Sündenfall“.

Jetzt, in der Coronakrise, schauen viele respektvoll auf die „stillen Helden“ in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Serdar Yüksel freut sich über die Aufmerksamkeit für seinen Beruf und hofft, dass das nicht nur eine Eintagsfliege ist. „Ich verstehe zum Beispiel nicht, dass Altenpfleger jetzt 1500 Euro Prämie bekommen, aber nicht alle Krankenpfleger einen solchen Bonus.“ Außerdem ersetze eine Einmalzahlung keine guten Löhne. Ein „echter Sozialdemokrat“ weiß das.

Zur Person

Serdar Yüksel wurde 1973 in Essen geboren und wuchs in Wattenscheid auf. Er verließ die Schule mit der Fachhochschulreife, machte eine Ausbildung zum Krankenpfleger und arbeitete bis 2010 in diesem Beruf. Er studierte parallel zum Job Pflegewissenschaften und angewandte Gesundheitswissenschaften an der Evangelischen Fachhochschule Bochum und der Universität Bielefeld. Abschluss als Gesundheitsmanager im Jahr 2008.

Der SPD gehört er seit 1989 an. Yüksel wurde 2001 in den Vorstand der SPD Bochum und 1999 in den Vorstand der SPD Wattenscheid gewählt. Zudem ist er Mitglied der Gewerkschaft Verdi, Vorstandsmitglied des Aktuellen Forums, Kuratoriumsmitglied bei der Stiftung Entwicklung und Frieden, Vorsitzender der AWO Ruhr-Mitte und Mitglied des Aufsichtsrats der UNO-Flüchtlingshilfe (seit 2017).

Dem Landtag gehört er seit 2010 an. Seit 2017 ist er Vorsitzender des Petitionsausschusses.

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