Essen. Keller und Schrank ausmisten, um sein Leben zu entrümpeln. Minimalismus liegt im Trend. Viele sehen darin sogar die Chance, die Umwelt zu retten.

„Es macht nicht glücklich, sich mit unnötigen Dingen zu umgeben.“ Oder: „Behalte nur die Dinge, die du liebst. Alles andere wirf weg.“ Oder auch so: „Wer braucht ein Buch im Regal, das man eh nie lesen wird?“

Alle drei Zitate stammen von der japanischen Influencerin und Autorin Marie Kondō (38), die mit einer recht simplen Botschaft, verpackt in Seminaren, Videos und Büchern mit Millionenauflage, zu Erfolg und Ruhm kam: Wer seine Wohnung oder sein Haus oder zumindest seinen Kleiderschrank oder seine Wohnzimmerregale von allem Überflüssigen befreit, lebt befreit und glücklicher. Im Englischen ist das Verb „to kondo“ inzwischen in den allgemeinen Wortschatz eingeflossen für „ausmisten“.

Marie Kondo
Marie Kondo © dpa-tmn | Seth Wenig

Aber ist das wirklich so einfach, wie Marie Kondō uns glauben machen will? Nehmen wir nur die Aussage zu dem Buch im Regal. Als begeisterter Leser haben sich bei mir in den vergangenen Jahrzehnten ganze Regale voller Bücher angesammelt. Krimis, Romane, Sachbücher, Bildbände. Viele, wie etwa die Spionagethriller von John le Carré oder die Romane Umberto Ecos, begleiten mich seit Jahrzehnten. Sie auszusortieren hieße, ein Teil meines Lebens auszusortieren.

Einen „Rucksack“ loswerden

Überhaupt: Ich kann mich schwer von Büchern trennen, so wie es anderen bei Langspielplatten oder Klamotten geht. Aber es hilft ja nichts, der Platz ist endlich. Mehrere Umzüge in den letzten 15 Jahren habe ich zum Anlass genommen, bananenkistenweise Bände bei gemeinnützigen Bücherläden abzugeben, einige habe ich auch via Internet verkauft. Bei so manchem Buch musste ich mich überwinden, es wegzugeben. Und in einigen Fällen tat es mir im Nachhinein so leid, dass ich mir den Band bei Ebay oder bei einem Online-Antiquariat gebraucht wieder gekauft habe. Von Minimalismus bin ich also ein gutes Stück entfernt.

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Um zu erkennen, dass die Reduzierung des direkten häuslichen Umfelds ein veritabler Trend ist, muss man sich nur ein bisschen auf Instagram umsehen. Dort finden sich reichlich Accounts von Minimalistinnen und – seltener – Minimalisten, die ihren Lebensstil präsentieren und Tipps und Inspirationen zum Aussortieren geben. Weniger ist mehr, lautet auch das Credo der Ausmist-Challenges, die Followerinnen und Follower dazu animieren, Fotos von Dingen zu posten, von denen sie sich (endlich) trennen konnten. Das Ergebnis reicht von einem Berg an Klamotten über alte Koffer, Fahrräder und Bücher bis hin zu noch nie gemochten Geschenken, überflüssigen Küchenutensilien und staubigem Krimskrams.

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Eine Art Lebensphilosophie

Im Grunde geht es beim Minimalisten-Trend aber nicht allein um praktische Gründe, etwa wenn der Kleiderschrank überquillt. Für viele, die sich in den sozialen Netzwerken äußern, ist die Reduzierung in allen möglichen Bereichen zu einer Art Lebensphilosophie geworden: Sie wollten einen „Rucksack“ loswerden, liest man oft. Ist das Ausmisten des Kellers also so etwas wie eine seelische Befreiung – und klimapolitisch sogar höchst aktuell?

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Umweltphilosoph Jürgen Manemann, Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover, hält das Phänomen Minimalismus für mehr als nur Spielerei – mit Blick auf die Klimakrise habe es durchaus Potenzial. „Wenn uns der Planet Erde und seine Lebewesen nicht egal sind, dann kommen wir nicht umhin, Perspektiven und Visionen zu entwickeln, die das ,Immer mehr‘ hinter sich lassen – denn jedes Wachstum verbraucht endliche Ressourcen“, betont Manemann.

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Es geht um die Erkenntnis, dass es genug ist, vielleicht sogar schon zu viel – besungen etwa von der Band Silbermond im Song „Leichtes Gepäck“: „Eines Tages fällt dir auf, dass du 99 Prozent nicht brauchst.“ Die Konsequenz daraus ist nicht einfach umzusetzen. „Genügsamkeit zu leben, ist für uns alle eine große Herausforderung. Wir haben die Überflussgesellschaft derart verinnerlicht, dass wir einem regelrechten Zwang zum Konsumieren unterliegen“, sagt Manemann, der Minimalismus aus philosophischer Perspektive erforscht.

Öfter reparieren, weniger kaufen

Adrienne Steffen und Susanne Doppler forschen gemeinsam am Phänomen Minimalismus. „Auch wenn es nicht immer die Motivation ist, könnte Minimalismus einen großen Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit leisten“, sagt Doppler, Professorin für Eventmanagement und Tourismus an der Hochschule Fresenius Heidelberg. „Bewusster konsumieren, weniger und hochwertigere Kleidung und Nahrung kaufen. Weniger entsorgen, öfter reparieren, weniger kaufen.“

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Aber: „Solange Materialismus der gesamtgesellschaftliche Konsens ist, wird Minimalismus das Klima nicht retten“, betont Steffen, Professorin für BWL an der Internationalen Hochschule in Erfurt. „Es gibt bei vielen immer noch eine große Kluft zwischen Intention und tatsächlichem Verhalten. Wenn ich jede Woche ein neues nachhaltig produziertes T-Shirt kaufe, kann ich das vielleicht mit meinem Gewissen vereinbaren, aber dem Klima wird es nicht helfen.“ So spaßig Ausmist-Challenges im Netz sein mögen und so befreiend sich eine klare Struktur in der Wohnung anfühlen mag – bleibt Minimalismus ein Privatvergnügen, wird aus Sicht von Umweltphilosoph Manemann wertvolles Potenzial verspielt. „Wir brauchen Minimalismus nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen: Das politische Gebot der Stunde lautet nicht Wachstum, sondern Genügsamkeit, Suffizienz.“

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Konkret fordert Manemann: „Minimalisten sollten sich produktiv politisieren. Wenn Minimalismus im Privaten bleibt, wird er keine Zukunft haben, seine Energien werden verpuffen, schlimmstenfalls stabilisiert er sogar noch die bestehenden Verhältnisse.“ Aus Sicht des Umweltphilosophen sollten Minimalisten und Klimaaktivisten ihre Schnittmengen erkennen und sich zusammentun. „Sie könnten voneinander lernen und gemeinsam viel bewegen. Denken wir nur an Fragen wie: Wie lebe ich Klimagerechtigkeit im Alltag? Wie motiviere und inspiriere ich Menschen zur Veränderung in einer Situation, in der das Überleben auf dem Spiel steht?“ Wenn es nur um die Botschaft „Vereinfache dein Leben“ gehe und die soziale Komponente des Netzwerkens fehle, bestehe die Gefahr, dass Minimalismus zu einem Lifestyle verkomme, zu einem neoliberalen Projekt, befürchtet der Umweltphilosoph.

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„Atmosphäre der Übersättigung“

Die Minimalistin und Aktivistin Jasmin Mittag schreibt auf ihrer Webseite: „Ich sehe Minimalismus als führenden Lebensstil der Zukunft. Er regt an, soziale Verantwortung zu übernehmen und das eigene Leben nach den Werten zu gestalten, die für einen bedeutsam sind.“ In ihrem „Minimalismus Manifest“ heißt es: „Die kapitalistische Wirtschaft schafft zunehmend eine Atmosphäre der Übersättigung. Das führt dazu, dass wir in einer Wegwerfgesellschaft leben.“

Zurück zu Marie Kondō. Sie hat vor kurzem erzählt, dass sie nach der Geburt ihres dritten Kindes nachsichtiger mit ihrem Drang zum Aufräumen und Aussortieren umgehe. Zwar mache es ihr weiter Freunde, zu Hause Ordnung zu schaffen, aber sie räumte auch ein: „Mein Zuhause ist unordentlich.“ Sie habe verstanden, dass es ihr gerade wichtiger sei, daheim Zeit mit ihren Kindern zu verbringen.

Ist schon in Ordnung, Marie.

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Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.