Wir fragten sechs Leute, wie sie zum Minimalismus stehen. Es zeigt sich: Die Ansichten gehen weit auseinander. Lesen Sie hier die Antworten.

„Ich muss mich zuhause fühlen!“

„Ich bin vor kurzem umgezogen und habe das zum Anlass genommen, radikal auszumisten. Etliche Kleidungsstücke landeten im Altkleider-Container, Möbelstücke auf Kleinanzeigen und Deko in „Zu verschenken“-Kisten vor meiner Haustür. Was für ein befreiendes Gefühl! Von den Dingen, die ich zurückgelassen habe, vermisse ich nichts. Vom minimalistischen Einrichtungsstil bin ich aber noch weit entfernt. Die Vorzeige-Wohnungen, die ich auf Instagram sehe, finde ich zwar sehr ästhetisch, aber auch oft unpersönlich. Mir ist es wichtig, in meiner Wohnung auch Erinnerungsstücke und lieber eine Pflanze mehr als zu wenig zu haben, um mich nicht wie im Hotel, sondern zuhause zu fühlen.“
Sophie, 27 Jahre, aus Düsseldorf

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„Mit erhobenem Zeigefinger“

„Als das Thema Minimalismus vor ein paar Jahren an meinem Horizont auftauchte, war ich ziemlich angefixt. Ich habe mir alle möglichen Videos auf Youtube zum Thema Ausmisten angeschaut und bin gezielt minimalistisch lebenden Influencer:innen gefolgt. Für eine kurze Zeit hab’ ich wirklich streng aussortiert und wenig dazu gekauft. Immer wieder habe ich dann aber gemerkt, dass mir bestimmte Dinge doch fehlen - zum Beispiel die pinke Hose, die zwar 364 Tage lang im Jahr im Schrank verstaubt, am ersten schönen Frühlingstag aber für die Extra-Portion gute Laune sorgt. Oder die kuschelige Wolle, mit der ich an einem gemütlich verregneten Tag im Oktober meine nicht vorhandenen Strick-Künste herausfordern möchte. Letztendlich steht der Minimalismus schon noch häufig mit erhobenem Zeigefinger neben mir vor dem Regal im Laden. Aber er sagt nicht mehr ,Besitze so wenig wie möglich’, sondern ,Denk gründlich nach, bevor du etwas kaufst. Und wenn es dir wirklich Freude bereitet – dann Go for it!’.“
Linda, 27 Jahre, aus Krefeld

„Von 80 auf 50 qm geschrumpft“

„Der Minimalismus bleitet mich schon viele Jahre. Wir leben diesen nicht „extrem“ aus, haben aber dennoch im Vergleich zu unserem Umfeld sehr viel weniger Besitz. Wir (eine dreiköpfige Familie) haben uns sogar von drei Zimmer und 80 Quadratmeter auf zwei Zimmer und 50 Quadratmeter verkleinert. Wir sind super zufrieden mit unserer sehr unkonventionellen Entscheidung. Minimalistisch zu leben ist ein andauernder Prozess, man versucht immer zu reflektieren und zu optimieren. Das kann sehr herausfordernd sein, vor allem mit einem Kind, macht aber auch Spaß und fühlt sich befreiend und richtig an.“
Sula, 32 Jahre , aus Düsseldorf

„Besitz bindet an Verpflichtungen“

„Vollkommen egal was wir besitzen, alles verpflichtet uns in einer bestimmten Art und Weise. Und dabei rede ich noch nicht mal von großen Dingen wie einem Haus oder einem Auto, bei denen es offensichtlich ist, dass man viel Geld und Zeit reinstecken muss mit der Zeit. Tatsächlich meine ich damit auch jedes kleine Ding, das wir besitzen. Alles bindet uns an Verpflichtungen - kleine oder große. Jede Sache bringt ein kleines To-Do mit sich, egal ob direkt - indem wir es putzen, ordnen, verstauen müssen. Oder auch indirekt, indem wir es im Hinterkopf haben und immer, wenn wir den Schrank öffnen, daran erinnert werden, dass es noch da ist und wir es ,wieder nicht’ genutzt haben oder es vielleicht ein ,Fehlkauf’ war. Die Summe all der kleinen Dinge, die wir besitzen, bindet unsere viel Aufmerksamkeit. Ob wir wollen oder nicht. Und das ist wertvolle Energie und Zeit, die uns im Alltag vielleicht am Ende fehlt. Denk nur mal an all die ungenutzte Deko oder ungetragene Kleidung im Schrank. Oder all die ungelesen Bücher im Regal: die müsste ich mal, lesen! Die Wahrheit ist leider: Das wird zu 99,9 Prozent nicht passieren. Besitz verpflichtet uns innerlich, und damit kommt unterbewusst immer wieder ein schlechtes Gewissen, dass wir es nicht tun oder nutzen. Warum dann nicht lieber diese 99 Prozent der Dinge, die wir nicht nutzen, ausmisten und somit frei davon sein?
Kristina, 36 Jahre, alias einquadratmeter bei Instagram, aus Wuppertal

„Ich sammle Erinnerungen“

„Minimalismus als Lebensstil, hat mir neulich jemand erklärt, bedeutet bewusster Verzicht, um Platz für das Wesentliche zu schaffen. Wir haben dann schnell das Thema gewechselt. Minimalismus ist nichts für mich. Hab’ es mal versucht, aber schnell wieder beendet. Ja, wo einst der große Bauernschrank stand, hängt heute der Flachbildschirm an der Wand. Und auch sonst steht - dank immerwährender Durchforstung meiner Frau - weniger herum im Wohnzimmer. Dafür habe ich, seit die Kinder leider ausgezogen sind, jetzt ein Zimmer. Eigentlich habe ich sogar zwei. Und ein Büro. Wo sie nun liegen, stehen oder hängen, all die Dinge, die nicht wirklich etwas wert, aber für mich trotzdem sehr wertvoll sind. Zeitschriften, Bücher, Schallplatten, Fotos, DVDs. Aber auch Biergläser, Blechkisten oder alte Werbeschilder. Oder die Eintrittskarten aller Konzerte, auf denen ich je war. Oder jede Akkreditierung, die ich in den vergangenen 30 Jahren ausfüllen musste. Weil sie (fast) alle Erinnerungen zurückbringen. Stundenlang kann ich dort sitzen, kann hören, sehen, blättern und sortieren. Nichts entspannt mich mehr. Du hortest, sagt meine Familie. Ich sammle, sage ich. Und Sammler brauchen Raum. Keinen Minimalismus.“
Andreas, 62 Jahre, aus Iserlohn

„Ich wohne im Kleintransporter“

„Ich stelle mir bei allem die Frage: Brauche ich das wirklich? Vor dreieinhalb Jahren habe ich entschieden, dass ich keine Wohnung brauche. Ich zog in einen rund vier Quadratmeter großen unbeheizten Kleintransporter. Meine beiden Zimmer in meiner WG waren ohnehin fast leer, schon in der Zeit davor hatte ich mich nach und nach von vielen Gegenständen getrennt, sogar von Kindheitserinnerungen auf dem Dachboden meiner Eltern. Im Juli 2019 zog ich in den Transporter, ausgestattet mit einer Matratze, einem Campingkocher und Küchenutensilien. Im Endeffekt sind Dinge, die man besitzt, nur Ballast, den man mit sich herumträgt. Und ein Sprung in die Ruhr ersetzt die Dusche, der Sonnenuntergang das Fernsehprogramm. Aber man muss natürlich Kompromisse machen. Vor vier Monaten bin ich Vater geworden, zusammen mit meiner Partnerin bin ich deshalb wieder in eine WG gezogen. Aber schlafen tue ich immer noch in meinem Kleintransporter, manchmal mit meinem kleinen Sohn. Dem gefällt das sehr gut.“
Patrick, 30 Jahre, aus Witten

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.