Düsseldorf/Köln. . Ein erschüttertes Land und noch immer viele offene Fragen: Was die Kölner Silvesternacht mit der Politik und der Willkommenskultur gemacht hat.

Plötzlich zieht die Nacht, die einfach nicht vergehen will, alle wieder in ihren Bann. Mit ihrer Panik, mit ihrer Verzweiflung und Ohnmacht. Der Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags zur Aufklärung der massenhaften Kölner Silvesterübergriffe tagt am 24. Oktober bereits fast zehn Monate, hat mehr als 150 Zeugen gehört und 100.000 Aktenseiten durchleuchtet, als Ina Scharrenbach auf eine Idee verfällt.

Die CDU-Obfrau im Ausschuss will hier erstmals den Opfern eine Stimme geben. Sie beantragt, im Sitzungssaal Telefon-Notrufe aus der Kölner Silvesternacht einspielen zu lassen. „Eine technische Premiere“, murmelt der Ausschussvorsitzende Peter Biesenbach (CDU).

Zeuge am Telefon: „Hier ist Ausnahmezustand“

Kurz darauf hört man atemlose Stimmen: „Die greifen mir unter das Kleid, und die Polizei macht nichts“, wimmert eine junge Frau. Eine andere berichtet: „Da stehen lauter Leute, und wenn man da durchläuft, dann begrapschen die einen und die langen einem unters Kleid, aber so richtig.“ Ein Mann ruft ins Mobiltelefon: „Hier ist Ausnahmezustand“. Ein anderer meldet hörbar fassungslos: „Es ist wirklich Anarchie, was da los ist.“

Der Kriminologe Rudolf Egg erklärt die Kölner Silvesternacht mit der amerikanischen „Broken-Windows-Theorie“.
Der Kriminologe Rudolf Egg erklärt die Kölner Silvesternacht mit der amerikanischen „Broken-Windows-Theorie“. © dpa

Der renommierte Rechtspsychologe Rudolf Egg, der im Auftrag des Untersuchungsausschusses rund 1000 Opfer-Anzeigen ausgewertet hat, kann sich die Dimension der Kölner Silvesternacht nur mit der amerikanischen „Broken-Windows-Theorie“ erklären.

Sie besagt: Wenn Straftaten ohne Konsequenzen bleiben und anonym begangen werden können, sinkt die Hemmschwelle immer weiter. Ein harter Kern an jungen Migranten habe sich womöglich zu Übergriffen im Kölner Bahnhofsumfeld verabredet. Doch erst die Hilflosigkeit des Rechtsstaates habe diese kleine Gruppe über eine „soziale Anstiftung“ zu einem riesigen entfesselten Mob mit Hunderten Kriminellen werden lassen, so Egg.

Ausschuss deckt zahlreiche Behördenpannen auf

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Nacht deprimiert am Ende dieses Jahres nicht nur Opfer-Anwälte. „Wir sind es den Opfern schuldig, dass die Silvesternacht zumindest sorgfältig politisch aufgearbeitet wird“, sagt CDU-Frau Scharrenbach. Der Untersuchungsausschuss des Landtags hat haarsträubende Einsatzpannen zu Tage gefördert.

Die CDU-Obfrau Ina Scharrenbach sagte zur Aufarbeitung der Kölner Silvesternacht: „Wir sind es den Opfern schuldig.“
Die CDU-Obfrau Ina Scharrenbach sagte zur Aufarbeitung der Kölner Silvesternacht: „Wir sind es den Opfern schuldig.“ © HO

Ein Einsatzleiter der Kölner Polizei, der schon auf dem Weg zum Dienst bemerkt, dass im Dom-Umfeld etwas nicht stimmt, aber nichts unternimmt. Landespolizei, Bundespolizei und Ordnungsamt, die aneinander vorbei arbeiten und das Gedränge rund um den Hauptbahnhof durch unkoordinierte Aktionen dramatisch verschärfen. Eine Einsatzzentrale, die von den Krawallen nichts mitbekommt und keine Verstärkung ruft. Polizisten, die weinende Frauen wegschicken oder stundenlang in der Wache auf die Anzeigenaufnahme warten lassen.

Landesregierung ging früh in die Defensive

Sollte nicht sein, was nicht sein durfte? Der Verdacht, die Wahrheit von Köln sei der politischen Korrektheit geopfert worden, bringt die Landesregierung über Monate in die Defensive.

Jäger und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) haben sich früh festgelegt, die Dimension der Ereignisse sei erst am 4. Januar zu erkennen gewesen. Bis dahin soll die Kölner Silvesternacht bloß einer von 4,6 Millionen Polizei-Einsätzen pro Jahr in NRW gewesen sein, die nun einmal in die Verantwortlichkeit der jeweiligen Behörde fallen.

Auswirkungen auf die gesamte Flüchtlingspolitik

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Tagelang ist von der Landesregierung nichts zu hören. Obwohl erste interne Polizei-Meldungen, die Innenminister Ralf Jäger und Krafts Umfeld erreichen, bereits am Neujahrstag von elf Übergriffen gegen Frauen, einer Vergewaltigung und einer 40- bis 50-köpfigen Tätergruppe arabischer oder nordafrikanischer Herkunft berichten. Jägers Polizei-Abteilungsleiter Wolfgang Düren räumt sogar ein, dass er sofort ein „erhebliches Verhetzungspotenzial“ gesehen habe.

Polizeipräsident Albers erkennt schon bei den ersten Berichten die Gefahr, dass die gesamte Flüchtlingspolitik in Europa durch die Kölner Silvesternacht in Frage gestellt werden könnte. „Mir war bewusst, dass das erhebliche politische Auswirkungen hat“, so Albers. Er sei davon ausgegangen, dass seine Einschätzung im Innenministerium geteilt werde. Doch in der Regierungsspitze will man nichts bemerkt haben.

Mögliche Einflussnahme der Landesbehörde ungeklärt

Zu Jägers Problem werden auch Aussagen von zwei Kommissaren der Kölner Kriminalwache. Sie berichten von einem Anrufer aus der Landesleitstelle, der am Neujahrstag verlangt habe, das Wort „Vergewaltigung“ aus einer ersten internen Polizei-Meldung zu streichen. Das sei ein „Wunsch des Ministeriums“. Der Anruf kann nicht rekonstruiert, die mögliche Einflussnahme der Landesbehörde nie geklärt werden.

NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) räumte nach der Kölner Silvesternacht lediglich „kommunikative Fehler“ ein.
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) räumte nach der Kölner Silvesternacht lediglich „kommunikative Fehler“ ein. © Imago

Ministerpräsidentin Kraft räumt lediglich kommunikative Fehler ein. Sie befindet sich im Urlaub, telefoniert am Mittag des 4. Januar erstmals mit ihrem Innenminister und beschränkt sich am 5. Januar auf ein kurzes schriftliches Statement gegenüber dem „Kölner Stadtanzeiger“. Sie bekennt: „Im Nachhinein war es ein kommunikativer Fehler, nicht alle anderen Medien einzubeziehen.“

Innenminister Jäger hat schnell einen „15-Punkte-Plan“ parat. Videoüberwachung, Polizei-Assistenten – Forderungen der Opposition werden eilig Regierungspolitik. Einen Rücktritt lehnt der Minister ab. Jäger will vielmehr den Jahreswechsel 2016/17 persönlich auf dem Kölner Domvorplatz begehen. Nun aber wird es der sicherste Ort Nordrhein-Westfalens sein.

Der Sündenbock: Der Kölner Polizeipräsident Albers muss seinen Hut nehmen 

Es ist ein warmer Juni-Tag, als Wolfgang Albers im Düsseldorfer Landtag auftaucht. Albers ist mit seiner Frau gekommen und will sich einiges von der Seele reden. Der Kölner Polizeipräsident wurde wenige Tage nach den Silvesterübergriffen von NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) in den Ruhestand versetzt. Der 60-Jährige bleibt der einzige Verantwortungsträger, der Konsequenzen spürt.

Der ehemalige Polizeipräsident von Köln, Wolfgang Albers, sagte im Juni im Untersuchungsausschuss des Landtags aus.
Der ehemalige Polizeipräsident von Köln, Wolfgang Albers, sagte im Juni im Untersuchungsausschuss des Landtags aus. © Oliver Berg/dpa

Albers, der gläubig ist und im Januar 2017 für ein Amt in der Rheinischen Landeskirche kandidiert, erinnert als Zeuge im Untersuchungsausschuss an das Dritte Buch Mose: Es sei „etwas Wahres dran“, wenn man ihn als „Sündenbock“ der Kölner Silvesternacht bezeichne.

Polizei berichtete zunächst von friedlicher Silvesterfeier

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Albers wird vor allem zum Verhängnis, dass die Pressestelle der Kölner Polizei am Neujahrstag in einer Routinemeldung von einer friedlichen und entspannten Einsatznacht berichtet. Der Vorwurf, im Namen einer falsch verstandenen Willkommenskultur solle das Wüten eines Migranten-Mobs verschwiegen werden, wiegt schwerer als alle Einsatzpannen zusammen.

NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD), der nach dem Misshandlungsskandal im Flüchtlingsheim Burbach und den Kölner Hogesa-Krawallen politisch angeschlagen ist, will dem Vertuschungsvorwurf entgegentreten und lässt seinen Parteifreund Albers fallen. Er versetzt ihn in den Ruhestand.

>> VIELE ANZEIGEN, NUR WENIGE URTEILE

1222 Strafanzeigen gingen in Köln laut Staatsanwaltschaft ein. In 513 Fällen handelte es sich um sexuelle Übergriffe.

333 Beschuldigte wurden namentlich ermittelt, gegen sie wurden 267 Verfahren eingeleitet. Etwa die Hälfte stellte man wieder ein, weil kein hinreichender Verdacht bestand oder Verdächtige nicht auffindbar waren.

35 Beschuldigte wurden angeklagt. In rund 30 Fällen kam es zu einer Verurteilung, zahlreiche dieser Urteile sind aber bisher noch nicht rechtskräftig.

6 beschuldigte Männer wurden bislang wegen sexueller Nötigung verurteilt.