Essen. Die FDP fordert das Ende der Wehrpflicht. Dabei gibt es faktisch sowieso keine allgemeine Wehrpflicht mehr, sagt Bundeswehr-Experte Michael Wolffsohn. Gutsituierte drückten sich um den Dienst; die Bundeswehr werde zur Unterschichtenarmee. "Wer arm ist, muss eher in Afghanistan sterben."

Ein Streitpunkt der künftigen schwarz-gelben Koalition ist die Wehrpflicht: Die Liberalen wollen sie abschaffen, die Union hält eisern daran fest. Auf wessen Seite stehen Sie?

Michael Wolffsohn: Diese Frage stellt sich erst gar nicht, weil es in Deutschland faktisch keine allgemeine Wehrpflicht mehr gibt. Inzwischen leistet die Mehrheit der jungen Männer weder Wehr- noch Zivildienst. Und deshalb haben wir auch keine Bürger in Uniform mehr, sondern die Tendenz zu einer Armee von Berufssoldaten. Das ist ein Krisensymptom, das mit der Bundeswehr nichts, aber mit unserer Gesellschaft sehr viel zu tun hat. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Es gibt also keine Wehrgerechtigkeit mehr?

Wolffsohn: So ist es. Inzwischen kann man durchaus von einem Zweiklassendienst sprechen. Denn es gelingt vor allem den Gutsituierten und Gebildeten, sich erfolgreich vor dem Wehr- und Zivildienst zu drücken. So schließen sich der Bundeswehr zunehmend diejenigen an, die auf dem zivilen Arbeitsmarkt nicht unterkommen. Das bedeutet, dass die Mittel- und Oberschichten den Einsatz für die Sicherheit der Gemeinschaft der Unterschicht überlassen. Das ist eine sehr unmoralische Entwicklung. Die Bundeswehr wird mit und mit zur Unterschichtenarmee. Es gilt der Satz: Wer arm ist, muss eher in Afghanistan sterben.

Auch das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen ist in der Armee nicht ausgewogen. Die Ostdeutschen sind deutlich überrepräsentiert. Welche Folgen hat das?

Wolffsohn: Diese „Ossifizierung“ der Bundeswehr führt dazu, dass die Armee allmählich die Bindung an traditionelle Werte der alten Bundesrepublik verliert. Das heißt, die West-Orientierung nimmt ab, sowohl an das westliche Bündnis als auch an dessen politische Kultur. Der Soldatenberuf wird zudem weniger als Berufung, sondern lediglich als Job gesehen, der mangels anderer Alternativen ergriffen wird. Damit ist auch eine „qualitative“ Auslese verbunden. Das hat zur Folge, dass der Bundeswehr zunehmend das nötige Personal fehlt, das sie als hochtechnologisierte Armee braucht.

Sie lehren an der Bundeswehr-Universität. Macht sich diese Entwicklung dort auch bemerkbar?

Wolffsohn: Das Niveau in meinen Fächern ist im Vergleich zu früher gesunken. Noch haben wir mehr Bewerber als Studienplätze. Das hängt mit der schlechten Arbeitsmarktsituation zusammen. Das wird aber nicht so bleiben. Die Ent-Intellektualisierung der Bundeswehr wird deshalb eher zunehmen.

Die Bundeswehr ist zunehmend in Kampfeinsätze verwickelt. Sind unter diesen Bedingungen nicht ohnehin eher Kämpfertypen gefragt?

Wolffsohn: Eindeutig ja. Aber das treibt die Ent-Intellektualisierung natürlich voran. Deshalb ist es notwendig, dass wir die Allgemeinheit wieder für die Wehrpflicht gewinnen. Wenn aber die meisten sich für zu gut oder zu moralisch für die Bundeswehr halten, dann werden wir künftig eine Armee bekommen, die nur aus Kämpfern und nicht aus Denkern oder gar aus moralisch Überzeugten besteht.

Würde eine Berufs- oder Freiwilligenarmee, wie sie die FDP fordert, diesen Trend noch verschärfen?

Wolffsohn: Auf jeden Fall. Das zeigen die amerikanischen Streitkräfte. Es ist ja kein Zufall, dass so viele völlig verwerfliche Taten in Afghanistan oder im Irak zu beobachten waren. Stichwort Guantánamo. So etwas passiert in einer Berufsarmee viel häufiger als in einer Wehrpflichtigen-Armee.

Die Lösung für Sie wäre also: Die Wehrpflicht muss auf jeden Fall beibehalten, aber konsequenter durchgesetzt werden?

Wolffsohn: Das Problem ist jedoch, man kann eine Gesellschaft nicht dazu zwingen, für die Gemeinschaft einzutreten. Deshalb ist das nicht allein eine Frage der gesetzlichen Rahmenbedingungen, sondern der politisch-moralischen Überzeugungsarbeit. Die Gesellschaft muss sich fragen: Welchen Preis ist sie bereit, für ihre Sicherheit und Freiheit zu bezahlen. Ohne Einsatz des Einzelnen für die Gemeinschaft wird es langfristig keine Gemeinschaft geben.

Weitgehend einig sind sich FDP und Union in der Afghanistan-Politik. Der Einsatz wird grundsätzlich befürwortet. Doch mit jedem getöteten Zivilisten und jedem toten deutschen Soldaten wächst der Widerstand. Wie bewerten Sie den Einsatz?

Wolffsohn: Ich sehe noch keine Strategie. Die Bundeswehr ist in Afghanistan vornehmlich damit beschäftigt, sich selbst zu schützen. Das strategische Ziel, die Terrorbasis zu zerstören, ist mit den bisher angewandten Mitteln nicht zu erreichen. Wer die Basis für den internationalen Terrorismus zerschlagen möchte, kann sich zudem nicht nur auf Afghanistan konzentrieren. Wer über Afghanistan spricht und über Pakistan schweigt, führt die Bundeswehr und damit uns alle in eine Sackgasse.

Welchen Ausweg sehen Sie: Sollen die Truppen aufgestockt werden?

Wolffsohn: Wenn man die Taliban besiegen will, muss man mehr militärischen Einsatz bringen, allerdings mit einem klaren politischen Ziel. Das heißt, der Preis für die Taliban muss so weit in die Höhe getrieben werden, dass der Verzicht auf Terror für sie erheblich günstiger wird. Deshalb muss man diesen Kräften nach der militärischen Zerschlagung anbieten, sich am zivilen Wiederaufbau zu beteiligen. Man muss ihnen also eine politische Perspektive bieten. Solange sie jedoch nicht bereit sind, die Waffen niederzulegen, muss man sie weiter militärisch bekämpfen. Eine Truppenaufstockung ist hierfür auf jeden Fall nötig.

Wie sollte sich die Bundeswehr überhaupt künftig entwickeln? Sollte sie ihre Rolle als Kampfarmee akzeptieren und sich dafür besser rüsten oder sollet sie sich eher wieder zivilen Aufgaben zuwenden?

Wolffsohn: Zivile Aufgaben erledigen zivile Instanzen besser als militärische. Aber Kriegseinsätze außerhalb des eigenen Territoriums sollten nur dann erfolgen, wenn es um die eigene oder die Sicherheit unserer Bündnispartner geht. Alles andere ist nicht unsere Aufgabe. Es gibt viele Staaten, wo die inneren Verhältnisse katastrophal sind, etwa Somalia oder Simbabwe. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, diese Verhältnisse zu verändern. Einsätze in außereuropäischen Nationen sind nur im äußersten Notfall zu rechtfertigen.