Essen. Die Flüchtlingskrise ist eine Herausforderung für ganz Europa. Doch die EU-Staaten und ihre Nachbarn reagieren ganz unterschiedlich. Ein Überblick.
Ende 2015 dürfte nach aktuellen Schätzungen die Zahl der Asylanträge in der EU bei über einer Million liegen. Innenminister Thomas de Maizière rechnet bis Ende des Jahres mit mindestens 800.000 Flüchtlingen in Deutschland.
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Dabei zeichnet sich laut Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik eine geografische Verschiebung ab: „Die Zahl der Westbalkan-Flüchtlinge geht zurück, dafür steigt die der syrischen Flüchtlinge.“ Seit Jahresbeginn kamen 500.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer. Sie kommen nach Europa, weil es in Syriens Nachbarstaaten keine Perspektiven für sie gebe, so Angenendt.
Rechte Strömungen in Deutschland noch in der Minderheit
In einigen Ländern der EU gewinnen rechte Parteien an Zustimmung. Angenendt erklärt:„Wenn die Bevölkerung der Meinung ist, dass die Regierung handlungsunfähig ist, befeuert das rechte Strömungen.“ Das sei in Deutschland noch nicht der Fall.
Griechenland und Italien: Bürgerinitiativen und Skepsis
Athen. Griechenland ist das Haupteinfallstor für Flüchtlinge, die über die Türkei in die Europäische Union kommen. Die meist gewählte Route führt von der türkischen Küste zu den ostägäischen Inseln - eine gefährliche Überfahrt, bei der in den vergangenen Monaten vermutlich mehrere tausend Menschen ertrunken sind. Wie viele Flüchtlinge bereits in Griechenland angekommen sind, weiß niemand genau. Denn keiner hat die Menschen gezählt. Schätzungen sprechen von mindestens 250.000 Ankömmlingen seit Beginn dieses Jahres. Das wären mehr als fünf Mal so viele wie im gesamten Vorjahr. Genaue Zahlen kennt man deshalb nicht, weil die griechischen Behörden mit dem Ansturm völlig überfordert sind. An manchen Tagen treffen Tausende auf Inseln wie Kos, Samos, Lesbos und Leros ein. Viele Flüchtlinge reisen von dort zum Festland und über die Balkanstaaten weiter, ohne überhaupt registriert worden zu sein. Asyl beantragt ohnehin kaum einer der Flüchtlinge in Griechenland, denn das Land ist für sie nur Durchgangsstation auf dem Weg nach Westeuropa.
Der Strom dürfte so bald nicht abreisen. Nach Informationen griechischer Dienste warten hunderttausende Flüchtlinge in der Türkei auf eine Möglichkeit, nach Griechenland zu gelangen. Die Reaktionen der Griechen auf den Flüchtlingsstrom sind unterschiedlich. Einerseits haben sich auf den Ägäisinseln zahlreiche Bürgerinitiativen gebildet, die den Flüchtlingen helfen – mit Getränken, Essen, Hygieneartikeln und frischer Kleidung. Andererseits erzielte bei der Wahl vom vergangenen Sonntag die ausländerfeindliche Neonazi-Partei Goldene Morgenröte gerade auf den betroffenen Inseln besonders hohe Stimmenanteile.
Auch die Regierung ist gespalten: Während das Linksbündnis Syriza von Ministerpräsident Tsipras Migranten aufnehmen und einbürgern will, plädieren die rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen, mit denen Tsipras koaliert dafür, die Migranten zurückzuweisen. (ghö)
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Rom. Übers Mittelmeer sind dieses Jahr bereits mehr als 120.000 Flüchtlinge nach Italien gekommen, und dieser Strom - auch wenn Europa heute eher nach Osten schaut - reißt nicht ab. Die Winterstürme werden zwar etwas Entspannung bei den Zahlen bringen, dafür umso mehr Dramatik bei den menschlichen Schicksalen. Aktuell beherbergt Italien etwa 100.000 Asylbewerber. Die meisten ballen sich im wirtschaftlich schwachen Süden; der reiche, rechtspopulistisch regierte Norden weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen - und hintertreibt damit die Bemühungen von Premier Matteo Renzi, eine „solidarische Verteilung“ europaweit zu erreichen: Wenn das schon im eigenen Land nicht klappt. Die Italiener selbst? Sie bewundern die Öffnung Deutschlands und schwanken fürs eigene Gebiet zwischen christlich-caritativem Hilfsansatz und politischer Abwehr. (pk)
Polen und Tschechien: Hilfsbereitschaft trifft auf Ablehnung
Warschau. Rechtspopulisten kochen im Wahlkampf ihr Süppchen mit Hilfe der Angst vor dem Islamismus und Unwissenheit. Zwar ergab die jüngste Umfrage des Instituts „CBOS“, dass die Hilfsbereitschaft in Polen gegenüber Flüchtlingen seit Mai abgenommen habe. Doch 56 Prozent der Polen befürworten weiterhin die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. 38 Prozent lehnen eine Aufnahme ab. Verfolgte Christen würden sind eher willkommen. Die Regierung betont, das Land habe bereits Zehntausende Ukrainer aufgenommen. (flü, kwa)
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Prag. Wenn der linkspopulistische Staatspräsident Milos Zeman gegen Flüchtlinge vom Leder zieht, weiß er die Mehrheit seiner Wähler, aber auch viele seiner politischen Gegner hinter sich. Laut einer Umfrage des Instituts „Focus“ von Anfang September unterstützen 94 Prozent der Tschechen eine Abschiebung der Flüchtlinge an der EU-Außengrenze in ihre Heimatländer. Die Mehrheit der Bevölkerung fordert eine Schließung der Grenzen. (flü)
Schweden und Dänemark: unterschiedliche Auffassungen
Stockholm. Schweden ist schon seit Jahrzehnten ein Land mit ungewöhnlich generöser Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, die von bürgerlichen wie linken Parteien getragen wird. Eine aktuelle Umfrage bescheinigt dem Land mehrheitlich anhaltende Flüchtlingsfreundlichkeit. Flüchtlinge aus Syrien erhalten lebenslange Aufenthaltsgenehmigungen. Auch Familienzusammenführung und finanzielle Unterstützung werden großzügig gehandhabt.
Nach Schweden kamen 2014 auf die Gesamtbevölkerung von 9,6 Millionen viel mehr Flüchtlinge als nach Deutschland oder jedes andere EU Land. Laut Eurostat kamen im Vorjahr 7,8 Asylerstbewerber auf 1000 Einwohner. Insgesamt kamen im vergangenen Jahr rund 81.000 neue Flüchtlinge nach Schweden. Rund 35.600 Flüchtlinge erhielten 2014 eine Aufenthaltsgenehmigung. In den ersten acht Monaten 2015 kamen 48774 Asylbewerber nach Schweden. 19.355 Asylanträge wurden bewilligt. Man rechnet mit 80.000 bis 100.000 Bewerbern am Jahresende. Doch auch der Widerstand wächst. Die einwanderungskritischen Schwedendemokraten erhalten laut jüngster Umfrage 17 Prozent. Noch vor wenigen Jahren hatten sie nur sechs Prozent. Die Flüchtlingsströme der letzten Monate konnten deren Zuspruch erstaunlicherweise nicht weiter erhöhen. (aanw)
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Kopenhagen. In Dänemark sind von Sozialdemokraten, über die derzeit mit der Unterstützung der sehr starken Rechtspopulisten regierenden Rechtsliberalen, fast alle Parteien und ein Großteil des Volkes entschieden gegen Einwanderung. Es gibt viele abschreckende Maßnahmen. Der Aufenthaltsgenehmigung für Syrier wird jedes Jahr erneut geprüft. Eine Wartezeit von 12 Monaten wurde bis zur Familienzusammenführung eingeführt, die Halbierung der finanziellen Unterstützung und Abschreckungskampagnen gegen Flüchtlinge in libanesischen Zeitungen sind weitere Maßnahmen. Flüchtlinge wissen das und wollen lieber nach Schweden. 2014 hat das Land nur 6104 Aufenthaltsgenehmigungen an Asylsuchende verteilt. Bis zum August 2015 waren es 6703. Eine Minderheit im Lande fordert eine bessere Behandlung von Kriegsflüchtlinge. Am Freitag demonstrierten 30.000 Menschen in Kopenhagen dafür. Bis Ende 2015 könnten rund 10.000 Flüchtlinge ins Land kommen. (aanw)
Österreich und Ungarn: härtere Grenzkontrollen bis zur Schließung
Wien. Österreich gehöre zu den Ländern, die durch die Flüchtlingswelle massiv belastet seien, sagt Alexander Marakovits, Pressesprecher des Innenministeriums. Deswegen setze sich die Regierung für eine feste Verteilungsquote in der EU ein. „Die Stimmung in der Bevölkerung ist grundsätzlich gut, und es ist viel Solidarität vorhanden.“ Doch der Wunsch nach einer stärkeren Regulierung werde lauter. 75 Prozent der Österreicher befürworten stärkere Grenzkontrollen, ergab eine Umfrage des Gallup-Instituts. (kwa)
Budapest. Soldaten haben seit vergangener Woche Polizeibefugnisse an Ungarns Südgrenze. Umfragen belegen: 66 Prozent der Ungarn glauben, dass Flüchtlinge eine Bedrohung für ihr Land sind. „Es besteht die Gefahr, dass die Schließung der Grenzen einen DominoEffekt nach sich zieht“, sagt Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die politische Tendenz zeige in Ungarn deutlich nach Rechts. Daher könne die Regierung von Viktor Orbán auch die Grenzschließungen durchsetzen. (mla)
Frankreich und Großbritannien: auf Durchreise über den Kanal
Paris. Über Flüchtlinge redet man so wenig wie möglich - das schien bis vor kurzem eine Grundregel in französischen Regierungskreisen zu sein. Die Vorsicht ist der offen fremdenfeindlichen Partei Front National geschuldet, die bereits ein Viertel der Wählerstimmen auf sich zieht.
Doch das Ausmaß der europäischen Flüchtlingskrise zwang Präsident François Hollande in die Offensive. Schon vor zwei Wochen kündigte er an, in den nächsten zwei Jahren 24.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Er nahm damit für sein Land jene Umverteilung der Asylbewerber in Europa vorweg, auf die die EU-Innenminister sich verständigt haben.
Trotzdem rechnet Paris nicht mit einem Anstieg der Zahl der Asylbewerber, die 2014 bei knapp 65.000 lag und im ersten Halbjahr 2015 sogar leicht rückläufig war. Der Grund: Nur wenige Flüchtlinge zieht es nach Frankreich, welches mit einer Wirtschaftskrise und hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen hat. Herumgesprochen hat sich auch, wie restriktiv das Asylrecht in Frankreich gehandhabt wird und dass zudem ein dramatischer Mangel an Unterkünften für Asylbewerber und Asylanten herrscht. (hepe)
London. Die große Zahl von Einwanderern macht das Thema Flüchtlinge heikel für die britische Politik. Premierminister Cameron weigert sich, EU-Flüchtlingsquoten zu akzeptieren und verweist auf das Recht auf einen britischen Sonderweg. Er will lediglich zusätzliche 20.000 syrische Flüchtlinge bis zum Jahr 2020 ins Land lassen. In der Bevölkerung gibt es einerseits durchaus die Bereitschaft, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Andererseits schlagen rechtspopulistische Parteien Kapital aus der Angst vor Überfremdung. (wit)
Niederlande und Belgien: Flüchtlinge werden willkommen geheißen
Den Haag. In der niederländischen Bevölkerung ist die Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle groß, die Bereitschaft zu helfen aber auch. Zahlreiche Familien haben Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Doch viele fürchten eine Überfremdung durch Muslime. Auf Druck der mitregierenden Sozialdemokraten (PvdA) wurden die niederländischen Grenzen bisher nicht geschlossen. Die größte Regierungspartei, die rechtsliberale VVD, will jedoch einen Einreisestopp. Sie gab nach, weil sie keine Regierungskrise auslösen will. (htz)
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Brüssel. Im Park Maximilien im Herzen von Brüssel campieren hunderte Flüchtlinge. Asylbewerber müssen registriert werden – das kann dauern. Die belgische Zeitung „Le Soir“ berichtet, dass es dafür genau einen Schalter gibt. Theo Francken, flämischer Nationalist und zuständiger Staatssekretär, baue so Hürden auf, ohne die Grenzen zu schließen. Die materielle Unterstützung ist dagegen so groß, dass das Lager nahezu überrollt wird. Manche Belgier bieten sogar an, Asylsuchende bei sich zu Hause aufzunehmen. (mla)
Schweiz und Spanien: Sorge und Zuflucht
Bern. Wahlkampf in der Schweiz. „Die Menschen sorgen sich, dass die Schweiz dem Andrang an Asylsuchenden nicht gewachsen ist“, sagt Politologe Lukas Golder vom gfs.bern. Die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei fördert die Sorgen, die zuständige Bundesrätin der Sozialdemokraten, Simonetta Sommaruga, beruft sich auf die humanitäre Tradition. Man rechnet 2015 mit 29.000 Asylanträgen. (mla)
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Madrid. Spaniens konservative Regierung stellt sich nach längerem Zögern auf mehr Flüchtlinge ein als zunächst geplant. Der neue EU-Verteilungsplan sieht für Spanien die Aufnahme von 17.670 Asylbewerbern vor - 14.931 Menschen mehr, als Regierungschef Rajoy für „verkraftbar“ hielt. Möglich wurde das, nachdem Barcelona, Madrid und gut 50 weitere Kommunen ein Netzwerk „Städte der Zuflucht“ gründeten. Zugleich zählt Spanien zu den EU-Ländern mit sehr restriktiver Asylpolitik. 2014 wurden knapp 6000 Asylanträge gestellt, nur 385 Menschen wurde Asyl gewährt. (ze)