Essen. SPD-Chef Sigmar Gabriel mahnt schnelle Hilfe insbesondere für die Revierstädte an. Und er erhöht den Druck auf die großen Stromversorger.
Herr Gabriel, das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit in Heidenau ist erschütternd. Sind in Ostdeutschland rechtsextreme Haltungen besonders verbreitet?
Sigmar Gabriel: Rechtsextreme Haltungen gibt es genauso auch in Teilen der westdeutschen Bevölkerung. Wir müssen aber die Frage stellen, warum es in Ostdeutschland nach allen Statistiken mehr rechtsextremistische Gewalttaten gibt. Das hat vermutlich etwas damit zu tun, dass im Westen die gewachsene Zivilgesellschaft stärker ist. Mit Vereinen, Verbänden, Kirchen, Bürgern, die dazu beitragen, dass eine Stadt auch in schwierigen Zeiten zusammenhält. Diese Strukturen sind im Osten aus historischen Gründen weniger stark entwickelt.
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Aber eines ist auch wichtig zu sagen: das Bild, das die rechtsradikalen Gewalttäter abgeben, ist ein Zerrbild unseres Landes, eine winzige Minderheit. Ihr gegenüber steht eine Welle der Hilfsbereitschaft. Deutschland kann stolz auf sich sein.
Wie muss die Politik auf Fremdenfeindlichkeit reagieren?
Gabriel: Es muss gelten: Null Toleranz gegenüber Rechtsextremen. Nicht nur durch den Staat. Sondern auch am Arbeitsplatz, im Sportverein oder im Bekanntenkreis. Genauso wichtig ist es aber, mit den Menschen zu sprechen, die alles andere als Rechtsradikale sind, aber Sorgen und manchmal auch Ängste haben angesichts der großen Zahl an Zuwanderern. Wir sollten nicht unterschätzen, wie viel Unsicherheit das Thema Flüchtlinge in Teilen der Bevölkerung auslöst. Wir haben in Deutschland eine doppelte Integrationsaufgabe: Wir müssen Flüchtlinge integrieren, aber wir müssen auch unser Land zusammenhalten. Wir Politiker müssen mit den Verunsicherten sprechen, damit die nicht irgendwann den falschen Parolen hinterherlaufen.
Verunsicherung ist auch in den Rathäusern zu spüren. Viele Städte fühlen sich bei der Flüchtlingsaufnahme vom Bund im Stich gelassen.
Gabriel: Mit Recht! Wir Sozialdemokraten sagen der CDU/CSU seit über einem Jahr, dass die Städte überfordert sind und die berechneten Flüchtlingszahlen weit höher liegen als das Innenministerium in seinen Statistiken annimmt. Es war mit großer Mühe möglich, in diesem Jahr die Länder für Aufgaben der Flüchtlingsaufnahme mit einer Milliarde Euro zu entlasten, was aber viel zu wenig ist. Es werden eher drei Milliarden Euro pro Jahr sein müssen, die der Bund für Städte und Gemeinde zur Verfügung stellen muss, damit sie die Aufnahme der Flüchtlinge leisten können.
Erst jetzt, wo es fast wieder zu spät ist, wächst auch in der CDU/CSU die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann. Ich hoffe sehr, dass den Reden jetzt im September endlich Taten folgen. Der Bund muss auch anders helfen. Wer Schutzbedürftige aufnehmen will, der muss diejenigen, die nicht aus Kriegs- und Krisengebieten zu uns kommen, bitten, das Land zügig wieder zu verlassen. Dafür sind schnelle Verfahren nötig. In den Niederlanden wird innerhalb von zehn Tagen über Asylverfahren entschieden, bei uns dauert das im Schnitt mehr als fünf Monate.
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Mehr Personal bei den zuständigen Behörden ist schon vor einem halben Jahr verabredet worden. Aber die Beschleunigung ist noch immer nicht spürbar. Und auch die Kapazitäten für die Erstaufnahme sind zu gering. Der Bund muss jetzt mindestens 50000 Plätze selbst zur Verfügung stellen, zum Beispiel in leeren Kasernen. Die Liste dessen, was getan werden muss, ist lang. Der Ärger bei uns in der SPD ist groß, denn wenn z.B. auf SPD-Ministerpräsidentinnen wie Hannelore Kraft und Malu Dreyer oder die Bürgermeister früher gehört worden wäre, hätten wir nicht so viel Zeit verloren.
Viele Ruhrgebietsstädte sind in der Krise. Dort leben viele Langzeitarbeitslose, die kommunale Verschuldung ist hoch, manche Stadtteile sind verwahrlost. Braucht das Revier ein Hilfspaket?
Gabriel: Ja, aber ich würde es viel selbstbewusster einfordern: Das Ruhrgebiet hat den Wohlstand Deutschlands erarbeitet. Es trägt seit Jahrzehnten die Last des eigenen Strukturwandels und finanziert gleichzeitig noch den Strukturwandel in anderen Teilen Deutschlands mit. Deshalb hat das Ruhrgebiet jetzt auch den Anspruch, dass ihm endlich auch geholfen wird, den Wandel zu gestalten. Aus den SPD-Ressorts in der Bundesregierung fließen deshalb mit gutem Recht rund 1,5 Milliarden Euro in den Stadtumbau, die Wirtschaftsförderung und die Schaffung von Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet. Und wir wollen und werden in den kommenden Jahren noch mehr tun.
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Aber es geht nicht nur um die Städte des Ruhrgebiets, denn viele Kommunen sind heute in Deutschland überfordert. Das ist der Grund, warum wir die Städte und Gemeinden und Landkreise in dieser Legislaturperiode um fast 20 Milliarden Euro entlasten. Gemeinsam mit dem Bundesfinanzminister habe ich ein kommunales Investitionsprogramm in Höhe vor 3,5 Milliarden Euro aufgelegt, dass nicht mit der Gießkanne verteilt wird, sondern nur den schwächeren Kommunen zu Gute kommt. NRW bekommt deshalb allein davon 1,1 Milliarden Euro. Wir machen das alles, weil Menschen Heimat brauchen. Stabile Städte, eine gute kulturelle und soziale Infrastruktur und bezahlbarer guter Wohnraum schaffen eine stabile Gesellschaft.
Aber das ist noch kein Ruhrgebiets-Hilfsprogramm...
Gabriel: Ich habe mit der NRW-Landesregierung und mit dem Initiativkreis eine „Ruhrgebietsinitiative“ angestoßen. Dazu gehören zusätzliche Investitionen, zum Beispiel für schnelles Internet, für Verkehr und Städtebau. Wir stellen die Förderung der Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsförderung um, damit die Förderung nicht mehr nur zwischen Ost – hohe Förderung – und West – niedrigere Förderung – unterscheidet. Die Mittel für NRW erhöhen sich dabei gerade um jährlich 50 Prozent. Wie gesagt, stellen die SPD-Ministerien der Bundesregierung alleine für das Ruhrgebiet 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung.
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In diesen Tagen entscheiden wir über ein Kompetenzzentrum für die Digitalisierung des Mittelstands. Auch da ist ein Antrag des Ruhrgebiets sehr vielversprechend. Teil dieser „Ruhrgebietsinitiative“ ist übrigens auch Ausbau und Entwicklung des Deltaports an der Lippemündung. Im Grunde geht es darum, die regionale Wirtschafts- und Strukturpolitik zu stärken. Das war bei CDU und FDP ein Stiefkind, weil es nicht in deren Ideologie passte. Die Vorstellung war, dass der Staat sich möglichst heraus halten soll und alles der Markt regelt. Dabei werden aber die starken Regionen noch stärker und die Schwachen schwächer. Der Staat muss deshalb beim Umbau helfen, denn die Menschen in Deutschland sollen überall vernünftige Lebensbedingungen vorfinden.
Was sagen Sie zur Umfrage dieser Redaktion zu den möglichen SPD-Kanzlerkandidaten? Frank-Walter Steinmeier schneidet besser ab als Sie und Hannelore Kraft?
Gabriel: Ich finde es super, dass wir so viele denkbare Kandidaten haben. Das ist besser als in der CDU: Die haben nur eine Kandidatin.
Die ist aber nicht ohne, oder?
Gabriel: Ja, aber in einer Demokratie ist jede und jeder schlagbar.
Gabriel erhöht den Druck auf die Atomkonzerne
Hier in Essen sitzen mit RWE, der Steag und ab 2016 auch Eon drei der fünf größten Energiekonzerne Deutschlands, die Ruhrgebietsstädte besitzen die Steag und große Anteile an RWE. Ob und wie die Energiewende gelingt, ist eine entscheidende Frage für das Ruhrgebiet. Wie lautet ihre Prognose?
Gabriel: Die Atomkonzerne haben lange von der Hoffnung gelebt, eine Kanzlerin Merkel würde den Atomausstieg rückgängig machen. Zunächst hat sie ja auch die Laufzeiten um 12 Jahre verlängert. Sechs Monate danach kam der Atomunfall in Fukushima und Frau Merkel ist Hals über Kopf noch schneller ausgestiegen, als es vorher SPD und Grüne vorgeschlagen hatten. Die Folge dieses Zickzack-Kurses war natürlich, dass die Unternehmen ihre Investitionsplanungen über den Haufen werfen mussten.
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Weil die Konzernführungen auf die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke durch CDU/CSU vertraut hatten, haben sie es lange versäumt, die Chancen der Energiewende für neue Geschäftsmodelle zu nutzen. Das war keine gute Idee. Eon hat aus seinen Fehlern der Vergangenheit gelernt, RWE auch. Diesen Weg früher zu beschreiten, wäre sicher besser gewesen. Die Steag übrigens hat früh auf Kraftwärmekopplung gesetzt, ihre konventionellen Kraftwerke schreiben schwarze Zahlen. Dass wir die KWK-Förderung nun ausbauen, hilft der Steag, den Stadtwerken und anderen Unternehmen, die in die hocheffiziente KWK-Technologie investieren. Die Energiewende ist eine große Herausforderung. Aber ich bin sicher, wir werden sie zu einem Erfolg machen.
RWE wartet auf das Gesetz zum Braunkohlekompromiss. Wie weit ist Ihr Haus damit?
Gabriel: Wir arbeiten daran mit Hochdruck. Auch die von uns zunächst geplante Klimaabgabe hätte übrigens nach meiner Überzeugung die Braunkohlekraftwerke und die Tagebaue nicht gefährdet. Da es um sehr viele Arbeitsplätze geht, haben wir uns dann aber für einen anderen Weg entschieden, der aus Sicht der Beschäftigten risikoärmer, für die Allgemeinheit aber teurer ist. Ich stehe zu diesem Kompromiss, denn wer die Menschen beim Strukturwandel nicht alleine lassen will, der muss auch bereit sein, ihnen und ihren Unternehmen zu helfen. Die Klimaziele werden auch so erreicht, immerhin werden wir 13 Prozent der Braunkohlekraftwerks-Kapazitäten stilllegen. Hätte ich diesen Kompromiss zuerst vorschlagen, hätte Greenpeace vermutlich gejubelt. heute werfen mir die gleichen Leute Einknicken vor der Kohlelobby vor. Aber das ist letztlich egal. Hauptsache das Ergebnis stimmt.
Ihr Gesetz soll gezielt Braunkohleblöcke in eine Kapazitätsreserve bringen – die Konzerne erhalten dafür Geld. Die EU darf aber nicht den Eindruck gewinnen, es handelte sich um eine gezielte Subvention. Wie wollen Sie das hinkriegen?
Gabriel: Wir bauen gerade einen völlig neuen Strommarkt, der die Energiewende unumkehrbar macht. Es ist vermutlich die wichtigste Entscheidung dieser Legislaturperiode in der Energiepolitik. Aber die erneuerbaren Energien sind eben wegen ihrer Wetterabhängigkeit auch eine Herausforderung für die Versorgungssicherheit. Wir brauchen deshalb auch eine Reserve an konventionellen Kraftwerken, um völlig sicher zu gehen, dass es niemals zu Versorgungsengpässen kommt.
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In der Übergangszeit, in der wir damit Erfahrungen sammeln wollen, nutzen wir dafür Braunkohlekraftwerke, die für diese Reserve zur Verfügung stehen. Danach werden sie stillgelegt. Ich denke, dass das mit dem EU-Recht vereinbar ist.
Eon will seine konventionelle Erzeugung samt Kernkraftwerken 2016 abspalten, auch die Atom-Rückstellungen kommen in die neue Gesellschaft Uniper. Sie planen nun ein Gesetz, das Eon statt bisher fünf Jahre unbegrenzt für Uniper haften lassen würde. Wann kommt es ins Kabinett?
Gabriel: Das Atomgesetz schreibt vor, dass die Eigentümer der Atomkraftwerke vollumfänglich für deren Kosten haften. Das neue Gesetz ändert an dieser Tatsache gar nichts. Es dient aber der Sicherung des Konzernvermögens, das zur Deckung bilanzierter Rückstellungen für Rückbau und Entsorgung zur Verfügung steht. Wir wollen klar stellen, dass gesellschaftsrechtliche Umstrukturierungen, wie etwa die Aufspaltung eines Unternehmens, nicht dazu führen, die Haftungsmasse zu verkleinern. Das Gesetz steht also unter der Überschrift „Eltern haften für ihre Kinder“.
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Wir müssen verhindern, dass am Ende der Steuerzahler haftet, wenn die Rückstellungen für den Rückbau der Atomkraftwerke und die Endlagerung nicht reichen. Das haben wir im Koalitionsausschuss vereinbart, jetzt muss sich unser Koalitionspartner auch im Kabinett dazu bekennen. Wir wollen so schnell wie möglich ins Kabinett.
Greifen Sie damit nicht der Kommission vor, die auf Grundlage der Stresstests zu den Atom-Rückstellungen einen Fahrplan zum Ausstieg entwickeln soll? Ist mit einer unbegrenzten Haftung nicht die Alternative, eine Atomstiftung, vom Tisch?
Gabriel: Entscheidend für die Sicherstellung der Rücklagen zur Entsorgung ist nicht, ob dies in Form einer Stiftung passiert oder nicht. Entscheidend ist, ob Geld da ist. Ob z.B. ein Stiftungs- oder Fondsmodell besser wäre als die Rückstellungen in den Konzernen zu lassen, hängt vor allem von der konkreten Ausgestaltung ab. Für mich muss aber vorher klar sein, dass sich auch dann kein Konzern aus seiner Verantwortung stehlen kann. Deshalb sage ich: Das Gesetz zur Haftungsverlängerung ist die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt in einer Kommission über ein Stiftungsmodell reden können.