Essen. Nachts klingelt die Ausländerbehörde. Abschiebung, jetzt. Das sei menschenunwürdig, finden viele. Doch die Kommunen fühlen sich nicht verantwortlich.

Unangekündigte Abschiebungen von Flüchtlingen, insbesondere in den Nachtstunden, bergen großes Empörungs-Potenzial. Erst recht, wenn Kinder zu Leidtragenden werden. Aktuell halten sich nach Auskunft des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 46621 Asylbewerber, deren Aufnahmeverfahren noch laufen, in Nordrhein-Westfalen auf (Stand: 31. Mai 2015). Doch wie genau gehen Abschiebungen im bevölkerungsreichsten Land der Bundesrepublik vonstatten? Und welchen Handlungsspielraum haben eigentlich die Behörden?

Auch interessant

Hochsauerlandkreis scheiterte mit Bitte ans Ministerium

"Die Ausländerbehörden sind immer die Dummen", klagt ein Sprecher des Märkischen Kreises. Aus Krefeld heißt es dazu: "Die Möglichkeiten, Abschiebungen zur Tageszeit zu vollziehen, werden grundsätzlich ausgeschöpft." Nur sind diese Möglichkeiten begrenzt, tatsächlich ist der Einfluss der Kommunen auf Abreisezeiten von Flüchtlingen gering. Denn: Die Zentrale Landesstelle für Flugabschiebungen (ZFA) organisiert in NRW sämtliche Abschiebungen auf dem Luftweg, diese machen fast 80 Prozent aller Ausweisungen aus. Die Abflugzeiten sind von den Flugplänen und den Absprachen zwischen dem aufnehmenden Staat und dem BAMF abhängig.

Das Ministerium für Inneres und Kommunales NRW (MIK) sagt hierzu: "Bei Flugrückführungen wird der Zeitrahmen auch von der Bundespolizei mit beeinflusst." Flugtermine würden dann oft so gelegt, "dass zur Vermeidung von Übernachtungen ein Rückflug der Begleitbeamten noch am selben Tage erfolgen kann". Ähnlich verhalte es sich in Bezug auf sonstiges Begleitpersonal, zum Beispiel bei einer notwendigen medizinischen Begleitung.

Die Kommunen sind mit diesen Umständen nur bedingt glücklich. Bereits 2005 hatte sich der Hochsauerlandkreis an das Landesminsterium gewendet, mit der Bitte, die Flugzeiten in die Mittagsstunden zu verlegen - ohne Erfolg. Ein weiterer Faktor ist die Distanz der Flüchtlingsunterkunft zum nächstgelegenen Flughafen. In Essen etwa erfolgte nach Angaben der Stadt in diesem und im Vorjahr keine Abschiebung vor 6 Uhr morgens - bedingt durch die geographische Nähe zum Düsseldorfer Flughafen.

Einige Kommunen schieben ohne Vorankündigung ab

Worauf die Ausländerämter sehr wohl Einfluss haben, ist die Ankündigung einer Abschiebung. Wichtig dabei: Eine Abschiebung ist streng genommen niemals gänzlich "unangekündigt". Sie ist erwartbar - nur eben nicht immer vorhersehbar. Ergeht nämlich der Bescheid des BAMF über die Ablehnung des Asylantrags und damit die Aufforderung zur Ausreise, bleiben dem Betroffenen 30 Tage Zeit, um Deutschland zu verlassen. Hält er die verordnete Frist nicht ein, sind die Kommunen befugt, zum Mittel der unangekündigten Abschiebung zu greifen. Der Sprecher des Kreises Recklinghausen bringt es auf den Punkt: "Der Zeitpunkt mag überraschend sein, aber nicht die Maßnahme."

Unangekündigte Abschiebungen schüren "Generalverdacht" gegen Flüchtlinge 

Eine Anfrage unserer Redaktion an alle Kreise und kreisfreien Städte der Regierungsbezirke Arnsberg, Düsseldorf und Münster ergab, dass die Mehrheit dieser 32 Kommunen nach eigenen Angaben von gänzlich unangekündigten Abschiebungen absieht. Heißt: Ausreisepflichtige bekommen schriftlichen Bescheid, wann und wo sie sich zwecks "Zuführung" einfinden sollen. Erst für den Fall, dass der Flüchtling dann nicht anzutreffen ist, greife man auch zu oben beschriebenen, drastischeren Maßnahmen.

Flüchtlingsrat NRW: Ankündigungen müssen selbstverständlich sein

Doch dieses Vorgehen ist nicht überall gängige Praxis. Olpe teilt mit: "Bei Einzelpersonen wird die Abschiebung im Regelfall nicht angekündigt". Bei Familien mit Kindern dagegen "immer".

Auch interessant

Dem Flüchtlingsrat NRW reicht das nicht: Für die Vorsitzende Birgit Naujoks ist es eine "Selbstverständlichkeit" , dass Kommunen den Zeitpunkt der Abschiebung immer und ausnahmslos, auch wiederholt, ankündigen. Sie zeichnet ein in dieser Hinsicht lediglich "gemischtes Bild" für Nordrhein-Westfalen und erinnert daran, dass den Kommunen schließlich Kosten entstehen, wenn der Abzuschiebende zum angekündigten Zeitpunkt untergetaucht ist.

Allein schon deshalb würden Zugriffe unangekündigt und gerne auch nachts erfolgen - was allerdings die Gefahr berge, dass Flüchtlinge in der öffentlichen Wahrnehmung unter "Generalverdacht" gestellt werden. Hier müssten die Behörden "besser gewichten". Die Kommunen widersprechen diesem Vorwurf.

Pro Asyl: "Bei der Abschiebungsvorbereitung sensibler werden"

Aus Münster heißt es zu Abschiebungen in der Nacht: "Wir wollen den ausreisepflichtigen, aber nicht freiwillig ausreisenden Personen ersparen, eine Nacht (im Aufnahmeland, d. Red.) im Gewahrsam verbringen zu müssen. Das halten wir für eine schlimmere Belastung." Bei angekündigten Ausreisen mag das sicher der Fall sein. "Doch wenn sie die Polizei plötzlich mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt", schildert Naujoks, "ist das schlimm."

Flüchtlingsrat NRW macht sich für "humanere Abschiebungspolitik" stark 

In Massen-Unterkünften litten nach derartigen, mitunter traumatisierenden Maßnahmen auch die Mitbewohner unter dem Wissen, was auf sie zukommen kann. Weiter berichtet Naujoks von Fällen, bei denen "gut integrierte", über viele Jahre geduldete Familien von einem Tag auf den anderen abgeschoben wurden. "Schreie, Tränen, kleine Kinder stehen dazwischen: Das ist schon sehr problematisch", pflichtet ihr Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, bei. Mesovic hält die Kommunen dazu an, "bei der Abschiebungsvorbereitung sensibler zu werden." Auch Naujoks macht sich für eine "humanere Abschiebungspolitik" stark: "Die Abschiebung sollte immer letztes Mittel sein."

Auch interessant

Wohl in Naujoks und Mesovics Sinne handelt Stephan Kühn, Sozialdezernent der Stadt Wuppertal. Er sagt: "Die unfreiwillige Ausreise ist menschenunwürdig." Kühn folgt einer klaren wie simplen Strategie, um diese zu verhindern: "Wenn keine dauerhafte Perspektive für einen weiteren Aufenthalt besteht, müssen wir das den Menschen im Gespräch auch klar machen."

"Rückkehrprämie" als mögliches Modell

Konkret versuchen Wuppertals Sozialdezernent und seine Mitstreiter, Anreize zu schaffen, die freiwillige Ausreise von abgelehnten Asylbewerbern zu forcieren, etwa indem man Reisekosten übernimmt. Kühn: "So haben wir hier pro Jahr circa 200 Aufenthalte durch freiwillige Ausreisen beendet." Ein anderes, bundesweit immer öfter angewandtes Modell ist das der "Rückkehrprämie" (in der Regel wenige hundert Euro pro Kopf), das wiederum Platz für neue Flüchtlinge schaffen soll.