Essen. Die meisten Bootsflüchtlinge, die derzeit in Italien landen, stammen aus Afrika. Auf das Geld, das sie in Europa verdienen wollen, wartet oft eine ganze Familie.
Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa kommen, stammen aus Syrien. Sie fliehen vor einem Krieg, der ihre Heimat in Stücke reißt. Doch unter den Bootsflüchtlingen, die von Libyen über das Mittelmeer versuchen, Italien zu erreichen, sind sie derzeit eine Minderheit. Seit Januar 2015 nahm Italien nach Angaben des Innenministeriums 12.107 Bootsflüchtlinge auf. 1346 von ihnen stammten aus Syrien, die anderen aus Eritrea, Somalia, Gambia, Mali, Senegal, Nigeria, Sudan, Elfenbeinküste und vielen Ländern südlich der Sahara.
Familien verschulden sich für den lebensgefährlichen Weg nach Europa
Es sind nicht die Ärmsten der Armen, die sich auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa machen. „Sie kommen meistens aus der Mittelschicht, es sind die Jungen, Risikobereiten“, sagt der britische Migrationsforscher und Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier von der Universität Oxford. Ihre Familien legen oft zusammen, verschulden sich auch dafür und hoffen, dass sich die Investition später für sie alle auszahlt. Manchmal sammelt sogar ein ganzes Dorf das Geld für einen von ihnen. Die Reise aus Zentralafrika in den Norden kann bis zu 15.000 Dollar teuer werden. Im Durchschnitt, wissen Hilfsorganisationen, kostet eine Passage etwa 5000 Dollar.
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Viele Flüchtlinge, nicht wenige minderjährig, stehen deshalb unter enormen Druck, Arbeit zu finden. Und die meisten vergessen ihre Familien nicht. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, aber die Weltbank schätzt, dass Afrikaner, die es nach Europa oder Amerika geschafft haben, jedes Jahr zwischen vier und sechs Milliarden Dollar nach Hause überweisen. Weltweit, so schätzte die Weltbank 2012, überwiesen Migranten 530 Milliarden Dollar zurück in die Heimat. Tendenz steigend.
Von Flüchtlingen geschicktes Geld ist für viele Staaten wichtiger Wirtschaftsfaktor
Die Rücküberweisungen sind für viele Staaten ein erheblicher Wirtschaftsfaktor. Das bitterarme Gambia beispielsweise ist wirtschaftlich auf Geldüberweisungen von Gambiern im Ausland angewiesen. Auch das dürfte ein Grund sein, weshalb sich viele Regierungen nicht ernsthaft bemühen, die Auswanderer aufzuhalten. Migrationsforscher Collier warnt in seinem Buch „Exodus“ vor einem langfristigen Ausbluten Afrikas.
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Es gibt ein ansehnliches Wirtschaftswachstum in einigen afrikanischen Staaten. Doch es wird nach wie vor durch das noch viel größere Wachstum der Bevölkerung aufgezehrt. Seit 1990 hat sich die Zahl der Afrikaner auf eine Milliarde Menschen verdoppelt. Es gibt Schätzungen, nach denen sich die Einwohnerzahl bis zum Ende dieses Jahrhunderts noch einmal verdoppeln oder gar verdreifachen könnte. Mehr als 40 Prozent der Afrikaner sind schon heute jünger als 15 Jahre. Junge Menschen, die Perspektiven suchen. Um eine Chance zu haben, brauche „Afrika halbwegs funktionierende staatliche Strukturen, und die meisten Länder haben sie nicht“, sagt Collier. Doch viele Afrikaner haben die Hoffnung auf ihre Heimat längst aufgegeben. Die Länder, aus denen die meisten Bootsflüchtlinge, die seit Januar 2015 in Italien angekommen sind, stammen, sind gescheiterte Staaten deren Regierungen das Volk unterdrücken.
Beispiel Eritrea
Eritrea gilt als eine der grausamsten Diktaturen der Welt. Der frühere Rebellenführer und heutige Staatschef Isaias Afwerki regiert brutal. Es gibt keine Opposition, aber Willkür und Folter. Das Land ist abgeriegelt, wird mit Nordkorea verglichen. Vor allem junge Menschen fliehen vor dem Militärdienst, der zehn Jahre und länger dauern kann und kein offizielles Ende hat. Menschenrechtler sprechen von „moderner Sklaverei“. Auch wer fliehen konnte, bleibt dem Staat ausgeliefert. Wem ein Dokument fehlt oder wer sonstige Hilfe einer Botschaft braucht, muss zwei Prozent seines Einkommens als „Diaspora-Steuer“ zahlen – inzwischen eine der wichtigsten Geldquellen des Staates.
Beispiel Somalia
Nachdem vor 24 Jahren Präsident Siad Barre gestürzt worden war, versank das Land in Anarchie. Bei zwei schweren Dürrezeiten kamen eine halbe Million Menschen ums Leben. Erst bekämpften sich verfeindete Warlords, dann folgte der Aufstieg der islamistischen Al Schabaab-Miliz, die Al-Kaida und anderen Dschihadisten nahesteht. Da der Fischfang unter ausländischen Trawlern leidet, begannen einige Familien, ihren Lebensunterhalt mit Piraterie und Lösegeld-Erpressung zu verdienen.
Beispiel Gambia
Der kleinste Flächenstaat Afrikas hat nur gut 1,8 Millionen Einwohner, von denen aber zwei Drittel 25 Jahre und jünger sind. Ein UN-Bericht von Ende 2014 beschreibt die Regierung des westafrikanischen Landes als „Schreckensherrschaft“. Es komme zu außergerichtlichen Hinrichtungen, es werde häufig gefoltert. Angesichts der Menschrechtslage stellte die Europäische Union ihre Hilfszahlungen zeitweise ein. Das bitterarme Land kann jedoch ohne westliche Unterstützung und ohne die Überweisungen von Auslands-Gambiern nicht überleben.