Dortmund/Buenos Aires. . Der Filmemacher Jan-Hendrik Gruszeckiweiß genau, wie Argentinier ticken. Beim Fußball leben sie alle Emotionen aus. Dass sie das Finale gewinnen, ist für sie gar keine Frage. Dank Messi und dank eines überaus ausgeprägten Selbstbewusstseins.

Es begann vor einigen Jahren mit einem harmlosen Wochenendbesuch: Der Dortmunder Journalist Jan-Hendrik Gruszecki (29) weilte zum Auslandspraktikum in Paraguay, huschte über die Grenze nach Argentinien und kam nach 20-stündiger Bustour in Buenos Aires an. Ein Stadionbesuch. Und er war verliebt: In das Land, in die emotionalen Argentinier, in ihren leidenschaftlichen Fußball. Gruszecki lebte vier Jahre in Buenos Aires, ist dort häufig zu Besuch und hat vor Kurzem eine Fernseh-Dokumentation über den Fußball im Land des deutschen WM-Finalgegners veröffentlicht. Thorsten Schabelon sprach mit ihm.

Herr Gruszecki, in Deutschland wurde der 7:1-Finaleinzug gegen Brasilien auf den Straßen gefeiert. In Argentinien dürfte mehr losgewesen sein.

Jan-Hendrik Gruszecki: Ja, Freunde haben Fotos und Videos geschickt. Das war Ausnahmezustand. In Argentinien war Unabhängigkeitstag. Da fühlen sich die Argentinier unschlagbar. Dann der Spielverlauf. Bei Deutschland war nach 20 Minuten alles klar. Bei Argentinien erst im letzten Schuss. Da brachen alle Dämme auf den Straßen. Sie haben nie am Sieg gezweifelt. Das gilt auch fürs Finale. Die Argentinier hätten lieber gegen Brasilien, den großen Rivalen, gespielt und den in der Kathedrale „Maracana“ geschlagen.

Das letzte WM-Duell zwischen Deutschland und Argentinien endete 4:0, auch 2006 gab es einen deutschen Sieg. Und dann ist da noch das frische 7:1 gegen Brasilien. Woher kommt da Optimismus?

Gruszecki: Argentinier sind extrem selbstbewusst. 2006, beim Elfmeterschießen, haben sie sich um den Sieg beraubt gefühlt. 1990 das Finale und die Strafstoß-Schwalbe von Rudi Völler ist die große Lüge. Das 4:0 von 2010 tut noch weh. Deutschland wird „Topadora“ genannt, die deutsche Dampfwalze, die alles plattmacht.

Trotzdem…

Gruszecki: … sind die Argentinier sicher, dass sie gewinnen. Sie haben Javier Matscherano, der Matt-scherano ausgesprochen wird. Der ist populärer als Messi und soll die Walze stoppen. Man sagt, er hat große Hodensäcke, das hört man in Argentinien ständig. Oliver Kahn würde sagen: Dicke Eier.

Welche Rolle spielt der Sport im Alltag?

Gruszecki: Der Argentinier hat nur Fußball im Kopf, Fußball ist allgegenwärtig und bewegt das ganze Land. Ein Beispiel: 2001 war mal wieder Staatskrise und Argentinien bankrott. Es gab keine Polizei mehr, aber vier Präsidenten in einer Woche. Das Land stand still. Nur die Fußball-Liga lief weiter und hat wohl einen Bürgeraufstand verhindert.

Der argentinische Fußball, das zeigt auch Ihre Dokumentation, ist extrem, es gibt immer wieder Gewalt und Tote.

Gruszecki: Das ist kein fußballspezifisches Problem. Waffen und Gewalt haben im ganzen Land einen Stellenwert. Sie sind allgegenwärtig.

Wir leben hier auch in einer fußballbegeisterten Region. Kann man die Atmosphäre in Schalke oder Dortmund mit der in argentinischen Stadien vergleichen?

Gruszecki: Leidenschaft ist ja nicht in Prozenten messbar. Hier erlebe ich rationales Temperament. Der Argentinier geht durch das Drehkreuz ins Stadion, vergisst alles und sich selbst, dreht völlig durch. Es ist das totale Ausleben von Emotionen. Vom Mensch zum Tier. Und wieder zurück. Ich bin schon mit Ohrenschmerzen aus dem Stadion gekommen, weil es so laut war. Selbst bei normalen Punktspielen fließen Tränen. Unglaublich.

Ihre Heimat trifft am Sonntag auf Ihre Wahlheimat. Wem drücken Sie die Daumen?

Gruszecki: Blau-weiß. Das mag nicht rational sein. Aber aus Sympathie ist über die Jahre Liebe geworden. Und für das Land empfinde ich mehr Zuneigung als für mein Heimatland.