Duisburg. . Das wichtigste Familienerbstück hängt bei Heidi Fouqret an der Wand: eine Eintrittskarte zum Endspiel Deutschland-Ungarn 1954. Ihr Vater hatte sich damals mit dem Moped auf den Weg in die Schweiz gemacht, um Rahn & Co. anzufeuern. Durchnässt kam er an. Und verkaufte die Karte für ein Pensionszimmer.

Eingerahmt neben einem großen Foto im Wohnzimmer hängt das wohl wichtigste Familienerbstück von Heidi Fouqret: die Eintrittskarte zum Endspiel der Fußball-WM 1954, dem „Wunder von Bern“. Wenn Deutschland am Sonntag im Finale gegen Argentinien kämpft, so wie einst vor 60 Jahren gegen Ungarn, wird ihr Blick hin und wieder abschweifen. Verharren wird er dann auf der kleinen Karte an ihrer Wand, die so viele Erinnerungen weckt. Erinnerungen an das kleine und das große Fußball-Wunder von Bern.

Von Aachen nach Bernim strömenden Regen

Bis auf die Haut durchnässt und mit durchgerüttelten Gliedmaßen kommen nämlich damals zwei junge Burschen aus Aachen in der Schweizer Hauptstadt an. Einer von ihnen ist ihr Vater, Ernst Fouqret.

Nach einer Odyssee von mehr als 630 Kilometern zu zweit auf dem Motorrad haben die beiden 19-Jährigen endlich ihr Ziel erreicht: Das Wankdorf-Stadion. Monatelang hatten sie ihr Geld für die Eintrittskarten zum Endspiel der Fußball-WM gespart. In eifriger Vorfreude traten sie früh morgens die Fahrt an, um Deutschland gegen Ungarn spielen zu se hen. Doch zwischen ihnen und dem Weg ins Stadion gibt es unerwartete Hindernisse.

Mit leuchtenden Augen erzählt Heidi Fouqret heute die Geschichte ihres Vaters. Dem sportbegeisterten Fußballer, der noch bis vor wenigen Jahren als 75-Jähriger selbst im Tor gestanden hatte. Den die Jugendlichen aus dem Block immer wieder zum Bolzen abholten. Den Mann, der ihr seine originale Eintrittskarte für das legendäre Spiel in Bern vermachte. „Sechs Franken hat die Karte damals gekostet“, sagt die 57-Jährige, „für jemanden, der gerade eine Ausbildung zum Weber abgeschlossen hatte, eine Menge Geld“.

„Sie hatten nicht genug Geld für die teuren Unterkünfte“

Wegen Geldmangels hatten die beiden jungen Fußballfans damals auch vor ihrer Reise das Wesentliche nicht bedacht: Dass man nach einer mehr als achtstündigen Fahrt auf einer Jawa 500, einem tschechischen Motorrad, im strömenden Regen zunächst etwas zu essen und ein trockenes Zimmer vertragen könnte. „Sie hatten nicht genug Geld für die teuren Unterkünfte“, erinnert sich seine Tochter.

Angekommen in der WM-Hochburg, stellen die beiden betreten fest, dass sie unmöglich in ihren nassen Kleidungsstücken das Spiel schauen und die Nacht in Bern auf offener Straße verbringen können. Ganz zu schweigen von der strapaziösen Rückfahrt auf dem stark vibrierenden Motorrad. Als Ernst und seinem Kumpel das klar wird, bricht für sie eine Welt zusammen. „Sie mussten schweren Herzens, nass bis auf die Unterhose, ihre Karten verkaufen.“

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Doch das Glück meint es gut mit den beiden. Nach langer Suche finden sie, wie durch ein Wunder, eine nette ältere Dame, die die pladdernassen Männer aus Mitleid für wenige Rappen bei sich aufnimmt. Sie trocknen sich ab und ziehen optimistisch los. Hoffnungsvoll, von dem gesparten Geld für die Unterkunft doch noch Tickets zu bekommen.

„Was heute bei den Schwarzmarkt-Preisen von heute undenkbar ist, gab es damals nicht“, sagt Heidi Fouqret. Und so erleben die beiden jungen Männer kurz vor Anpfiff ihr persönliches Wunder: Sie bekommen auf dem Schwarzmarkt zwei Karten zum originalen Eintrittspreis. Die beiden können ihr Glück nicht fassen. So sind sie kaum darauf vorbereitet, schon bald ihr zweites Wunder zu erleben. Deutschland bezwingt Ungarn 3 zu 2. Die Fans sind außer sich. Tanzen durch den Regen. „Sie waren hin und weg von dem Spiel“, erinnert sich die Duisburgerin an die Erzählungen.

Seit dem Triumph von Bern schaut Ernst Fouqret jedes Spiel

Seitdem verpasst der vierfache Vater kein einziges Fußball-Spiel mehr im Fernsehen, und die Begeisterung springt über. „Ich durfte als Achtjährige schon immer mit den Jungs Straßenfußball spielen, die anderen Mädchen waren zu schlecht“, sagt sie mit einem Lachen. Selbst Ernst Fouqrets einjähriger Sohn muss nun von klein auf mit seinem Vater im Flur das Kicken üben.

Auf die Eintrittskarte von Bern wirft die Duisburgerin schon vor Jahrzehnten ein Auge: „Die will ich mal erben, Papa.“ Im vergangenen Sommer drückt der gealterte Fußballnarr ihr diese aus heiterem Himmel in die Hand. „Das soll doch ein Erbe sein“, sagt sie. „Na gut“, erwiderte ihr Vater, steckt sie wieder ein. Ein halbes Jahr später hört sein Sportlerherz auf zu schlagen. Nun hängt die große Erinnerung an das Wunder von Bern in ihrem Wohnzimmer. Zwar kann sie nicht, wie gewohnt, nach jedem Spiel dieser WM mit ihm telefonieren, aber sie hat die Karte als kleinen Trost und großartige Erinnerung. Außerdem ist sie sich sicher: „Deutschland wird Weltmeister!“