Newtown kommt zehn Monate nach Amoklauf nicht zur Ruhe
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Newtown. . Zehn Monate nach dem Amoklauf in einer Grundschule in Newtown im US-Bundesstaat Connecticut soll der Tatort abgerissen werden. Der Ort fürchtet den Jahrestag am 14. Dezember. Mit gutem Grund: Es wird ein Ansturm von Schaulustigen erwartet – und Medienvertretern.
Es wird kein x-beliebiger Abriss. Die Bauarbeiter müssen eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen. Der Schauplatz wird abgeriegelt, um Fotografen und Hobby-Filmer fernzuhalten. „Niemand“ sagt Patricia Llodra, „soll in die Lage versetzt werden, auch nur einen Stein aus den Trümmern mit nach Hause zu nehmen und später bei Ebay zu verkaufen.“
Die Trümmer, von denen „first selectman“ Llodra spricht, so nennt man in Neuengland einen gewählten Stadt-Manager, das werden bald schon die Überreste der Sandy-Hook-Grundschule in Newtown, US-Staat Connecticut sein. Jener Ort, an dem Adam Lanza am 14. Dezember mit Pistolen und einem Sturmgewehr 20 Schülerinnen und Schüler im I-Männchen-Alter und sechs Lehrer erschoss.
Schießerei an US-Grundschule
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Zum ersten Jahrestag eines der schlimmsten Ausbrüche von Waffengewalt in der jüngeren US-Geschichte soll der Unglücksort fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht sein. Um Platz zu schaffen für eine neue, 50 Millionen Dollar teure Schule, die 2016 den Betrieb aufnimmt. „Wir haben uns geschworen, diesem dunklen Tag etwas Gutes abzuringen“, sagt die studierte Psychologin Llodra, „wir wollen ein besserer Ort werden.“ Wenn man Newtown nur ließe.
Die Welle der Anteilnahme ist in Newtown zu gewaltig
Rund zehn Monate danach kämpft die 300 Jahre alte Ortschaft 130 Kilometer nördlich von New York mehr mit der Außenwelt denn mit dem in Scherben liegenden Innenleben. Wer die Main Street entlang läuft, trifft auf Einheimische, die sich freundlich wegducken, wenn Auswärtige Fragen stellen. Jede Frage ist das Gegenteil von Alltag. Die Welle der Anteilnahme, erklärt Curtis Clarke vom Lokalblatt „Newtown Bee“, ist zu gewaltig. Und oft bizarr. Menschen karrten selbst gebastelte Mahnmale an. Ungefragt. Und so geschmacksunsicher wie der graue Riesenfindling mit bunten LED-Leuchten, den eine religiöse Gruppe aus Maine ablieferte. Inzwischen gingen der Ortschaft die Standorte aus, sagt Clarke. Und manchen Newtownern die Geduld. Sie kommen nicht zur Ruhe.
Trauer in Newtown
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Matt Crebbin, Pfarrer der United Church of Christ, der ein grünes Handgelenksband aus Gummi trägt, auf dem „Newtown – Wir wählen die Liebe“ steht, spürt es jeden Tag. Für viele Familien gehe die Suche nach der neuen Normalität erst los, sagt er. Welche Deformationen das Blutbad erzeugt hat, werde man erst in zehn Jahren erkennen. Er macht sich keine Illusionen: „Die Scheidungsquote wird steigen, auch die Zahl der Alkoholiker. Manche werden ihr ganzes Leben über Hilfe benötigen.“ Erfahrung aus vielen Amokläufen.
"Die Scheidungsquote wird steigen, auch die Zahl der Alkoholiker"
An dieser Stelle im Gespräch schüttelt Crebbin verärgert den Kopf. Er muss an die schon vorher bekannten schweren psychischen Störungen des Attentäters denken, der am Tag der Tat erst seine Mutter und am Ende sich selbst erschoss. Der Pfarrer ist Wortführer einer Gruppe von Geistlichen quer durch alle Konfessionen Newtowns, die regelmäßig in die Hauptstadt fahren, um für schärfere Waffengesetze zu werben. „90 Prozent der Amerikaner wollen Hintergrundchecks von Waffenkäufern, aber in Washington lehnen sie genau das ab. Unbegreiflich. Auf Massaker folgt Debatte, auf Debatte folgt nichts, auf nichts folgt das nächste Massaker.“
Waffenkultur in den USA
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Am schlimmsten, sagt Kommunal-Managerin Llodra, wirke die Untätigkeit der Politik auf die Familien der 20 Opfer, die aus einem millionenschweren Hilfsfonds Unterstützung bekommen sollen. Für jedes tote Kind 281.000 Dollar. Und je 20.000 Dollar für zwölf Schüler, die überlebten. Im Fall der Greens trifft wohl beides zu. Jimmy Green und seine Frau Nelba haben bei dem Massaker Tochter Ana verloren. Ein Klassenzimmer weiter saß ihr Sohn Isaiah (9). Er überlebte.
Je näher der Jahrestag rückt, desto größer wird in Newtown das Unbehagen. Die erneute Aussicht auf Hunderte Journalisten und Dutzende Trucks der großen TV-Sender lässt viele Bürger erschaudern. Man will allein sein, unter sich. „Wenn es nach mir ginge, würde ich die Straßen nach Newtown absperren“, sagt Patricia Llodra, „das ist unsere Stunde der Trauer.“
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