Wiesbaden. Rund 107.000 Mal haben Jugendämter in Deutschland im vergangenen Jahr geprüft, ob Kindeswohl in Gefahr war. Bei 36 Prozent der begutachteten Mädchen und Jungen sahen die Behörden eine akute oder latente Gefährdung des Kindeswohls. Bei jeder zweiten überprüften Familie sahen die Experten Hilfebedarf.

Hunger, Schläge, Dreck, sexueller Missbrauch und psychische Gewalt: Wenn die Jugendämter solche Hinweise bekommen, müssen sie das Risiko der betroffenen Kinder einschätzen und handeln. "Besonders schwierig ist es, wenn die Eltern nicht bereit und in der Lage sind mitzuhelfen", sagt Inge Büttner vom Frankfurter Jugend- und Sozialamt. "Frühe Hilfen sind die beste Chance, die Häufigkeit von Misshandlung und Vernachlässigung in der Bevölkerung zu senken", sagt Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut (dji).

Rund 107.000 Mal überprüften die Jugendämter im vergangenen Jahr in Deutschland, ob das Wohl eines Säuglings, Kindes oder Jugendlichen in Gefahr war. Besser vorstellbar: von 10.000 Minderjährigen waren das ungefähr 82; genaue Bevölkerungszahlen hat das Statistische Bundesamt noch nicht. "Eine hohe Zahl", sagt Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds. Allerdings fehlten Vergleichszahlen. Das Gesetz schreibt die amtliche Erhebung für 2012 zum ersten Mal vor.

Akute Gefährdung machten die Jugendämter bei ungefähr 17.000 Kindern

"Das europäische Ausland berichtet - soweit es Zahlen gibt - deutlich höhere Zahlen", sagt Kindler vom dji. Ein möglicher Grund: "In Deutschland liegt die Schwelle, Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen zu können, bewusst unterhalb der Gefährdung. Das ist nicht überall in Europa so."

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Die neue Statistik ist nach Einschätzung von Kindler und Hilgers ein guter Einstieg. "Wir wussten ja lange überhaupt nicht, wie viele Kinder im Jahr solche Überprüfungen erleben", sagt Psychologe Kindler. Allerdings seien erste Statistiken relativ gefährdungsanfällig und Zeitreihen notwendig, um Aussagen treffen zu können, sind sich beide Fachleute einig.

Eine akute Gefährdung machten die Jugendämter bei ungefähr 17.000 Kindern aus. Dazu gehören beispielsweise Säuglinge, die nicht genug Nahrung bekommen, und schwer misshandelte Kinder, wie Büttner sagt. Bei 21 000 Minderjährigen sahen die Behörden eine latente Gefährdung.

Bei 68 000 Jungen und Mädchen stellten die Fachkräfte glücklicherweise keine Anzeichen für eine Gefährdung fest, allerdings sahen sie bei der Hälfte Hilfe- oder Unterstützungsbedarf.

"Geld und die Bereitschaft reichen nicht" - Wirkungsforschung notwendig

Die Fachleute setzen gegen Misshandlung und Vernachlässigung auf Prävention und möglichst frühe Hilfen: "Präventionsketten, also immer an bestimmten Stellen des Lebens der Kinder wertschätzende, hilfsbereite, aufsuchende Sozialarbeit", nennt Hilgers als Schlüssel. Netzwerke früher Hilfen - mit Gynäkologen, Hebammen und Kinderärzten, seien inzwischen vorgeschrieben, es gebe aber noch Umsetzungsbedarf. "Das wird bei weitem noch nicht überall gemacht."

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"Wichtig ist aber auch, dass man die richtigen Hilfen anbietet", betont Hilgers. Wenn der Bedarf an einer Familienhelferin festgestellt werde, die nächste aber erst in zwei Jahren frei sei, verursache dies eher eine Katastrophe als dass es helfe.

"In Deutschland haben wir kein Problem mehr mit dem guten Willen. Es gibt viel Handlungsbereitschaft", sagt Kindler. Schwierig sei es jedoch, frühe Hilfen und ambulante Familienhilfen so zu gestalten, dass sie auch etwas bewirkten. Geld und die Bereitschaft reichten nicht, notwendig sei auch Wirkungsforschung. In diese werde bislang aber recht wenig investiert. "Das hindert uns, was die langfristigen Erfolge angeht. Die Herausforderung für Deutschland besteht darin, einen wissenschaftlich begleiteten Lernfortschritt zu organisieren." (dpa)