Essen. Fast 400 Kinder und Jugendliche sind im vergangenen Jahr in Essen aus ihren Familien genommen worden. Das ist ein neuer Höchststand. Verantwortlich für den Anstieg sieht das Jugendamt aber nicht die Zunahme von Gewalt und Verwahrlosung in den Familien, sondern eine erhöhte öffentliche Sensibilität.

Wachsende Aufmerksamkeit bei Bürgern und Behörden ist nach Ansicht des Jugendamtes eine Ursache für die hohe Zahl von Kindern und Jugendlichen, die im vergangenen Jahr aus ihren Familien genommen werden mussten. Wie berichtet wurden in Nordrhein-Westfalen 11.533 solcher Schutzmaßnahmen ergriffen, 8,6 Prozent mehr als im Vorjahr. In Essen kletterte die Zahl von 338 auf 397. Auch das ist ein neuer Höchststand.

Verantwortlich für den Anstieg sei nicht eine Zunahme von Gewalt und Verwahrlosung in den Familien, sondern „eine erhöhte Sensibilität in der Öffentlichkeit“, glaubt Ute Ducrée, stellvertretende Leiterin der Sozialen Dienste im Jugendamt. Seit dem Fall Kevin schaue man genauer hin: Der Zweijährige, den das Jugendamt Bremen in der Obhut seines drogenabhängigen und gewalttätigen Ziehvaters ließ, starb im Jahr 2006 quasi unter den Augen der Behörden.

Hemmschwelle gesunken

Auch in Essen war es früher möglich, dass ein amtlicher Vormund seine zahllosen Mündel nur aus den Akten kannte; nun ist er zu regelmäßigen Besuchen angehalten. „Zudem arbeiten wir verstärkt mit Kitas, Schulen und Freizeiteinrichtungen zusammen“, sagt Ute Ducrée. Dieser sozialräumliche Ansatz sorge dafür, dass man früher merke, wenn in einer Familie etwas schief läuft und gegensteuern kann. „Gleichzeitig ist auch bei Lehrern, Erziehern und Nachbarn die Hemmschwelle gesunken, sich an uns zu wenden.“

Meist versuche man zunächst, die Familien mit ambulanten Hilfen zu stärken. Erst wenn das nicht nutze und das Wohl der Kinder als gefährdet gelte, greife man zu einer Inobhutnahme. Dann werde das Kind vorübergehend oder auf Dauer im Heim oder in einer Pflegefamilie untergebracht. Es gebe aber auch Fälle, wo das Kind sofort aus der Familie genommen werde: etwa nach einem Polizeieinsatz wegen häuslicher Gewalt oder wenn eine Familie mit einer Krisensituation überfordert sei und zur Ruhe kommen müsse. „Im letzteren Fall kehren die Kinder später oft zurück, nur weist die Statistik das nicht aus“, bedauert Ducrée.

Die Folgen des Internets

Seit einiger Zeit erlebt Ducrée auch die familiären Folgen der vernetzten Welt: Da zieht eine Frau aus Leipzig mit vier Kindern in die winzige Wohnung einer Internet-Bekanntschaft aus Essen, da lässt eine andere die drei Kleinen bei der Freundin in Berlin zurück, bevor sie an die Ruhr kommt. „Wenn die Mutter aber erst in Essen gemeldet ist, sind wir für die Kinder verantwortlich.“ Da müsse man die Kollegen in Berlin um eine Inobhutnahme bitten und dann prüfen, ob eine Familienzusammenführung möglich ist.