Essen. . Vor der Urteilsverkündung im Kachelmann-Prozess hat sich vor dem Landgericht Mannheim eine lange Menschenschlange gebildet. Über 100 Zuschauer wollen das Urteil miterleben. Die Wahrheit aber kennen nur Kachelmann selbst und seine Exfreundin.
Wir waren nicht dabei. Wir haben nicht erlebt, wie er die nur angelehnte Wohnungstür aufschiebt und zu ihr ins Schlafzimmer geht. Wir waren auch nicht dabei, wie sie zusammensitzen, aufgewärmte Spaghetti Bolognese essend. Wie sie ihn dann konfrontiert mit ihren Vorwürfen: Du hast eine andere! Wie er schließlich ausrastet, zum Messer greift, es ihr an den Hals drückt und sie vergewaltigt. So ihre Variante, die ihn vor Gericht brachte.
Wir waren nicht dabei. Wir nicht, die Staatsanwälte nicht und auch nicht die Richter. Es kann so gewesen sein, rein theoretisch, aber auch eben ganz anders. Fest steht, dass über ihn, Jörg Kachelmann, den mutmaßlichen Vergewaltiger, heute das Urteil gesprochen wird.
Zahlreiche Bettbeziehungen
Um 9 Uhr, wenn alles wie geplant läuft, wird sich die Tür hinter dem Richtertisch im Saal 1 des Mannheimer Landgerichts öffnen, wird sich das Publikum, Zuschauer wie Journalisten, von den Plätzen erheben. Ritualisiert, aus Respekt vor der dritten Gewalt im Staat. Und auch Jörg Kachelmann, der lässige Wettermoderator von einst, wird in einem seiner grauen Anzüge dastehen, innerlich aufs Äußerste angespannt, den Blick auf den Vorsitzenden Richter, Michael Seidling, richten. Und unausweichlich wird der nach fast neun Monaten Prozess dessen Urteil verkünden.
Wir wissen so viel und wissen gar nichts. Wir wissen, was uns eigentlich gar nichts angeht, allenfalls den Voyeuristen in uns amüsiert. Dass Jörg Kachelmann, der einstige Smartie vor der Wetterkarte, mit seinem Charme auch im wahren Leben so verschwenderisch umging, dass er die Damen gleich reihenweise flachlegte. Dass er parallel zahlreiche Bettbeziehungen pflegte, die ihm nicht viel bedeuteten, den Frauen aber um so mehr. Ein Gutachter attestierte ihm „variantenreichen Sex“.
Gelogen haben beide
Doch den tragischen Stunden der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2010 sind wir kaum nähergekommen. Was bleibt, sind potenzielle Beweise, die so schwach sind, dass man sie kaum als solche bezeichnen mag. Ein Messer, an dem Haut- und DNA-Spuren eher fehlen als vorhanden sind. Kratzer und blaue Flecken auf ihrem, Simone D.s Körper, von denen nicht einmal die besten Rechtsmediziner des Landes sagen können, wie sie entstanden sind. „Es kann sein, muss aber nicht...“ war, zusammengeschnurrt, das Ergebnis ihrer Analysen, wenn diese nicht eindeutig mit dem Ergebnis „selbst beigebracht“ endeten.
Was bleibt, ist die Erfahrung, dass es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, die sich trotz Einsatz modernster Techniken, trotz immensen Aufwands eines Gerichts nicht klären lassen. Hat er, oder hat er nicht? Gelogen hat er, aufs Widerwärtigste schwerste Krankheiten vorgeschützt und den Geliebten aufgetischt, als er in Wirklichkeit seine zweite Frau heiratete. Wie erbärmlich! Aber gelogen hat auch sie. Hat eine Nebenbuhlerin mit atemberaubender Geschichte ausspioniert, hat sich selbst einen vermeintlich anonymen Brief geschrieben, die Staatsanwälte und gar ihren eigenen Anwalt belogen. So lange, bis die sie entlarvten.
Das Gericht urteilt allein über Indizien
Mehr als die Hälfte des Prozesses fand nichtöffentlich, hinter verschlossenen Türen statt. Mit Rücksicht auf die Intimsphäre der Beteiligten. Doch man kann sicher sein: Hätte sich in diesen Passagen der Verhandlungen Belastendes ergeben, das für einen entscheidenden Durchbruch in die eine oder andere Richtung gesorgt hätte, wir hätten es erfahren. Spätestens in den Plädoyers.
Das fünfköpfige Gericht unter Vorsitz von Michael Seidling entscheidet über Aussage gegen Aussage, entscheidet auch darüber, wem es glaubt. Es entscheidet für oder gegen einen mutmaßlichen Vergewaltiger, für oder gegen eine vermeintlich nach Rache lechzende Ex-Geliebte.
Im Zweifel für den Angeklagten?
„In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten, argumentieren viele Beobachter, juristisch unbedarfte wie Experten. „Vieles spricht dafür, dass Kachelmann nach der jetzigen Beweislage freizusprechen ist“, schrieb der Regensburger Strafrechtler Prof. Henning Ernst Müller Ende Februar im Beck-Blog, in dem sich Juristen zu aktuellen Themen äußern. An der Beweislage habe sich seitdem nichts geändert, betont Müller einen Tag vor dem Urteil. Auch wenn es dasselbe Gericht gewesen sei, das Kachelmann nicht aus der Untersuchungshaft freilassen wollte, auch wenn es dasselbe war, das Anklage erhob, könne es doch „seine Unabhängigkeit bewahrt haben“.
Heute also wissen wir mehr. Einzig die Wahrheit, die kennen nur zwei Menschen.