München. . Die Opfer der Angehörigen hofften bis zuletzt auf ein persönliches Wort von Demjanjuk. Vergeblich Der 91-Jährige verfolgte auch den letzten Verhandlungstag regungslos. Auch zu den eindringlichen Schilderungen der NS-Verbrechen schwie er.

Auch an diesem letzten Verhandlungstag wird er wieder in den Saal geschoben. Im Rollstuhl sitzend, die graue Kappe tief ins Gesicht gezogen, das ohnehin schon hinter einer großen, dunklen Brille verborgen ist. Sein Verteidiger Ulrich Busch tätschelt ihm den Rücken, bis ihn die Sanitäter vorsichtig ins neben dem Richtertisch stehende Bett hieven. Alles wie gehabt also, an diesem 93. Verhandlungstag. Selbst ein letztes Wort verweigert der Angeklagte, den Kopf auf dem gelben Kissen schüttelnd.

Doch dann ist für wenige Momente alles anders. Wenigstens zur Verkündung des Urteils möge Demjanjuk dem Gericht direkt gegenüber sitzen, befindet der Vorsitzende Richter Ralph Alt. Vis-à-vis mit dem Angeklagten spricht er dann das Urteil: Fünf Jahre Haft wegen Beihilfe zu zigtausendfachem Mord. Und was da noch nüchtern und zahlenlastig klingen mag, bekommt in der nächsten Stunde zutiefst menschliche Dimensionen.

Präzise und schnörkellos beschreibt Alt die Tötungsmaschinerie der Nazis, vom Beschluss auf der Wannsee-Konferenz bis hin zur Verwirklichung im polnischen Sobibor.

Sterben dauerte 30 Minuten

Ankommen, aus dem Güterzug aussteigen, in Reihen aufstellen, ins Lager einziehen, sich ausziehen und zum vermeintlichen Duschen in die Gaskammern gehen. „Spätestens da begreifen die Menschen ihre Situation und die ihrer Angehörigen. Es bricht Panik aus, die Menschen beginnen zu weinen, zu schreien, versuchen verzweifelt, die Türen der Gaskammern zu öffnen. 20 bis 30 Minuten dauert ihr Sterben“, sagt Richter Alt.

Dies alles hätte nur mit Hilfe der Trawniki funktioniert, jener 150 osteuropäischen Hilfswilligen, die das von nur 20 SS-Leuten geführte Vernichtungslager Sobibor betrieben haben. Ohne sie, so Alt, hätte das fabrikmäßige Töten nicht funktioniert. Sie seien an allen Phasen des Mordens beteiligt gewesen. Der Feuerschein der verbrennenden Leichen sei kilometerweit zu sehen gewesen, der Geruch habe über der ganzen Region gelegen.

Beihilfe zum Mord

John Demjanjuk, der als Iwan Demjanjuk in der Ukraine geboren wurde und als sowjetischer Kriegsgefangener in die Hände der Deutschen geriet, habe sich dafür entschieden, sich für sie zu verdingen, statt sich dem Elend und Leid im Gefangenenlager auszusetzen.

Eineinhalb Jahre und 93 Verhandlungstage lang wurde gegen den mutmaßlichen KZ-Wachmann John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord verhandelt. 28 060 Menschen sollen in der Zeit, als er im Vernichtungslager Sobibor seinen Dienst tat, ums Leben gekommen sein.

Als wichtigstes Beweisstück gilt Demjanjuks mutmaßlicher Dienstausweis mit der Nummer 1393, ausgestellt von der SS, nachdem er am 27.3.1943 nach Sobibor abkommandiert war.

64 Angehörige verloren

Bis zum Schluss hat Demjanjuk geschwiegen, zur Enttäuschung der vielen, vor allem aus den Niederlanden stammenden Nebenkläger, allesamt Angehörige von in Sobibor internierten und meist auch getöteten Menschen.

„Ich habe nichts anderes erwartet“, sagt der 72-jährige Rudi Cortissos aus Amsterdam, der seine in Sobibor getötete Mutter Emmy vertritt. 64 Angehörige verlor Cortissos in Sobibor und Auschwitz. Großeltern, Onkel, Tanten. Vetter und Cousinen.

Er habe sich gewünscht, Demjanjuks Stimme zu hören. „Nur etwas Persönliches! Aber da kam nie etwas, er lag da wie ein Stück Fleisch“, sagt Rudi Cortissos, der überlebte, weil er in Amsterdam dreieinhalb Jahre versteckt wurde. Ähnlich wie Anne Frank.

Die Opfer aufgezählt

Der schwierigste Moment für Rudi Cortissos an diesem Tag ist der, als Richter Alt jeden einzelnen Güterzug aufzählt, der in der Zeit Demjanjuks in Sobibor ankommt. Er nennt das genaue Datum, den Tag, die Zahl der Menschen, die in die Waggons gepfercht wurden und er zählt jeden einzelnen ihrer Angehörigen auf. Der Bruder von..., die Eltern von..., die Mutter von... Viele der Menschen im Saal beginnen zu weinen, Rudi Cortissos bricht zusammen. So viele Jahrzehnte sind seitdem vergangen, und doch ist das Morden von damals nun unausweichlich nah.

Später, draußen vor dem Saal, wird der 72-jährige Cortissos sagen, wie zufrieden er mit dem Urteil ist, wie erleichtert. Wieder kämpft er gegen die Tränen. Von John Demjanjuk, der während der Urteilsbegründung wieder in seinem Bett liegt, gibt es keine einzige Reaktion, keine Bewegung, abgesehen davon, dass er sich zwischendurch mit der Hand den Oberkörper kratzt.