München. . John Demjanjuk ist als NS-Verbrecher im Vernichtungslager Sobibór zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Trifft es den richtigen? Demjanjuks Verteidiger kündigte an, das Urteil anzufechten. Er bleibt auf freiem Fuß.
Trotz einer Verurteilung zu fünf Jahren Haft hat das Landgericht München den ehemalige KZ-Wachmann John Demjanjuk zunächst auf freien Fuß gesetzt. Angesichts seines Alters von 91 Jahren und da keine Fluchtgefahr bestehe, sei keine Untersuchungshaft nötig, bis ein rechtskräftiges Urteil vorliege, sagte der Vorsitzende Richter Ralph Alt am Donnerstag. Bis es ein solches Urteil gibt, kann es noch dauern.
Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch legte am Donnerstag umgehend Revision ein. Bis diese entschieden ist, könne es noch ein Jahr oder länger dauern, hieß es aus Justizkreisen. Gerichtssprecherin Margarete Nötzel sagte, auch wenn das Urteil rechtskräftig werde, müsse geprüft werden, ob Demjanjuk haftfähig sei. Niemand wisse, was dann sei. Bis dahin ist Demjanjuk auf jeden Fall auf freiem Fuß.
Der aus der Ukraine stammende ehemalige KZ-Wachmann John Demjanjuk wurde vom Landgericht München II wegen Beihilfe zum Massenmord an Juden im deutschen Vernichtungslager Sobibór verurteilt. Während Demjanjuk den Schuldspruch ohne sichtbare Regung verfolgte, konnten viele Nebenkläger ihre Tränen nicht zurückhalten.
Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen
Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Demjanjuk als „fremdvölkischer Hilfswilliger“ vom 27. März bis Mitte September 1943 Wachmann in Sobibór gewesen und damit Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen geleistet hat. Demjanjuk nahm das Urteil in seinem Rollstuhl sitzend entgegen. Die Urteilsbegründung hörte er, wie üblich, in einem Bett liegend an. Seine Augen hatte er wie stets hinter einer Sonnenbrille verborgen.
John Demjanjuk war im Zweiten Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Im Lager Trawniki ließ er sich wie viele andere Kriegsgefangene zum Hilfswachmann ausbilden – vermutlich in der Hoffnung, damit seinem fast sicheren Tod in einem der Kriegsgefangenenlager zu entgehen.
Richter: Alle Trawniki wussten Bescheid
Alle diese Hilfswachmänner, die im deutschen Jargon „Trawniki“ genannt wurden, seien am routinemäßigen Vernichtungsprozess in Sobibór beteiligt gewesen. Sie hätten eine wesentliche Rolle gespielt, sagte nun in München der Vorsitzende Richter Ralph Alt. „Der Angeklagte war Teil der Vernichtungsmaschinerie.“ Egal, wo ein Trawniki gerade Dienst getan habe: „Allen Trawniki-Männern war klar, was geschah.“ Der Feuerschein der Verbrennung der Leichen sei „kilometerweit“ zu sehen gewesen. Zudem sei der Gestank der verbrannten Leichen in der ganzen Gegend zu riechen gewesen.
Die Trawniki hätten die im Vernichtungslager ankommenden Juden in Empfang genommen, bewacht und in die Gaskammern getrieben sowie dafür gesorgt, dass die Juden taten, was ihnen die SS-Leute befohlen hätten. Ohne die „Hilfswilligen“ wäre die Judenvernichtung nicht durchführbar gewesen, sagte Alt. So seien in Sobibór auf etwa 20 SS- und Polizeikräfte rund 150 Trawniki gekommen. „Trawniki-Leute waren in allen Phasen der Ermordung der Juden beteiligt.“
Die Nazis verwischten die Spuren
Alt sagte, der älteste während Demjanjuks Einsatz in Sobibór ermordete Gefangene sei über 90 Jahre alt gewesen. „Und es berührt einen, dass wir heute über den Mord an einem Menschen verhandeln, der 1848 geboren ist.“ Sobibór war eines der drei Vernichtungslager, die die Nazis im besetzten Polen für die so genannte Aktion Reinhardt angelegt hatten: Von 1941 bis 1943 wurden in Sobibór, Belzec und Treblinka mehr als zwei Millionen Juden und rund 50.000 Sinti und Roma ermordet. Die drei Vernichtungslager wurden noch vor Ende des Krieges wieder geschlossen und beseitigt, was den Nazis die Möglichkeit gab, ihre Verbrechen dort zu vertuschen.
Nach dem Krieg tat sich die Justiz der Bundesrepublik schwer mit der Bestrafung der Täter. Was Sobibór betraf, so wurden nur der ehemalige Lagerkommandant Franz Stangl und drei weitere Mörder zu lebenslanger Haft verurteilt. Fünf SS-Männer kamen mit Freiheitsstrafen von drei bis acht Jahren wegen Beihilfe davon, andere wurden wegen Befehlsnotstands freigesprochen. Dagegen wurden 19 „Trawniki“ in der Sowjetunion hingerichtet. Daher sagte Demjanjuks Verteidiger Busch im Plädoyer, Demjanjuk solle als „Sündenbock“ im 91. Lebensjahr „dafür bezahlen, dass Nachkriegsdeutschland die Bosse des Naziterrorismus nicht oder nicht hinreichend bestraft hat“. Damit wolle die Justiz nun wiedergutmachen, dass hochrangige Nazis freigesprochen worden seien.
Gericht lässt politische Überlegungen außer Acht
Richter Alt betonte am Donnerstag, das Gericht habe sich vom Gesetz und nicht von moralischen oder politischen Überlegungen leiten lassen. Nicht ein Volk habe auf der Anklagebank gesessen, sondern ein Mann. Der Prozess hatte sich seit 2009 hingezogen. Das Urteil fiel am 93. Verhandlungstag. Die Staatsanwaltschaft hatte 6 Jahre gefordert, einzelne Nebenkläger die Höchststrafe von 15 Jahren. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert.
Verteidiger Busch kritisierte das Urteil als „juristisches Wunschdenken“. Es gebe keinerlei Beweise. Den Dienstausweis Demjanjuks, in dem dessen Abkommandierung nach Sobibór während des fraglichen Zeitraums vermerkt ist, bezeichnet er als Fälschung. (dapd)