Tokio. .
Die Welt blickt mit Sorge auf Japan: Nach dem verheerenden Erdbeben und dem Tsunami hat sich die Lage in den Atomkraftwerken des Landes über das Wochenende dramatisch zugespitzt. In mehreren Reaktoren fielen die Kühlsysteme aus. Ob eine Kernschmelze bereits eingesetzt hat, war unklar. Rund 160 Menschen wurden möglicherweise verstrahlt.
Das ganze Ausmaß der Katastrophe war auch zwei Tage nach dem schwersten jemals in Japan gemessenen Beben noch nicht erfasst. Die Behörden gehen mittlerweile von deutlich mehr als zehntausend Toten aus. Tausende Menschen werden noch vermisst. Viele Gegenden sind ohne Wasser. Im ganzen Land wird der Strom knapp, auch in der Hauptstadt Tokio muss die Energieversorgung deswegen zeitweise abgestellt werden.
Ministerpräsident Naoto Kan sprach von der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. In einer Fernsehansprache rief er die Japaner angesichts der Katastrophe zur Einheit auf. Die Zukunft des Landes hänge nun von den Entscheidungen jedes Einzelnen ab, sagte er.
Überhitzte Brennstäbe
Größte Sorgen bereiten die Atomkraftwerke - besonders der Komplex Fukushima, der aus zwei Anlagen mit insgesamt zehn Reaktoren besteht. In Block 1 von Fukushima-Daiichi kam es am Samstag zu einer Knallgasexplosion, nachdem die Verantwortlichen Meerwasser eingeleitet hatten, um die überhitzten Brennstäbe zu kühlen und so eine möglicherweise fatale Kernschmelze zu verhindern. Am Sonntag erklärte Regierungssprecher Yukio Edano, eine ähnliche Explosion drohe im Block 3 der Anlage.
Dass in beide Reaktoren Meerwasser eingeleitet wurde, werten Experten als Indiz dafür, dass die Behörden die Reaktoren aufgegeben haben und es nur noch darum geht, eine Kernschmelze um jeden Preis zu verhindern. "Wenn Sie den Reaktordruckbehälter mit einem Schnellkochtopf vergleichen, heißt das, der wird jetzt nicht mehr etwas gekühlt, sondern komplett in der Badewanne versenkt", sagte der internationale Atomexperte Mycle Schneider.
Auch im wenige Kilometer entfernten Atomkraftwerk Fukushima-Daini gab es in drei Reaktoren Probleme mit den Kühlsystemen. Dort seien die Vorbereitungen zum Ablassen von Dampf abgeschlossen, sagte eine Mitarbeiterin der japanischen Atomaufsichtsbehörde NISA. Durch das Ablassen des radioaktiv verseuchten Wasserdampfes kann ein Schaden am Reaktordruckbehälter vermieden werden.
Weitere Störfälle gemeldet
Wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) mitteilte, gab auch das Kernkraftwerk Onagawa Atomalarm der niedrigsten Stufe, wie er bei erhöhten Strahlungswerten in der unmittelbaren Umgebung vorgeschrieben ist. Nach Auskunft der Behörden seien die drei Blöcke der Anlage unter Kontrolle.
Auch im Kernkraftwerk Tokai etwa 120 Kilometer nordnordöstlich von Tokio gab es Probleme mit der Kühlung. Wie der Betreiber Japan Atomic Power Company erst am Sonntag mitteilte, fiel eine der beiden Pumpen während des Erdbebens am Freitag aus. Die andere Pumpe arbeite aber weiter, der Reaktor laufe normal und es bestehe kein Risiko, dass Strahlung austrete. Bei der Atomaufsichtsbehörde hieß es, man sei über den Störfall noch nicht unterrichtet.
In Fukushima überschritt die Strahlung zeitweise die zulässigen Grenzwerte. Die Belastung sei bislang aber so niedrig, dass keine Gefahr für die Gesundheit der Menschen bestehe. Nach Aussage der japanischen Atomenergiebehörde waren bis zu 160 Menschen möglicherweise radioaktiver Strahlung ausgesetzt und wurden in Krankenhäuser gebracht. Mehr als 170.000 Menschen wurden im Umkreis von 20 Kilometern um das Kraftwerk mittlerweile evakuiert.
Lage in Erdbebengebiet weiter angespannt
Derweil rechnen die Behörden allein in der Region um die Stadt Miyagi mit mehr als 10.000 Toten. Die Stadt war von dem Beben und dem anschließenden Tsunami besonders schwer getroffen worden. Offiziell bestätigt sind bislang erst 1.400 Todesopfer sowie 739 Vermisste.
Die Stärke des Bebens vom Freitag wurde vom Meteorologischen Amt Japans von 8,9 auf 9,0 nach oben korrigiert. Auch am Sonntag gab es wieder Nachbeben bis zur Stärke 6,2. Seit der Katastrophe am Freitag wurden damit mittlerweile mehr als 150 teils schwere Erdstöße registriert.
Die Regierung verdoppelte die Zahl der Soldaten für den Rettungseinsatz von 50.000 auf 100.000. Auch viele ausländische Helfer nahmen inzwischen die Arbeit auf. Rettungsteams suchen die Küstenregion nach Verletzten und Vermissten ab. Viele Landstriche sind jedoch noch immer unzugänglich.
Millionen ohne Strom und Wasser
Laut dem Fernsehsender NHK sind etwa 380.000 Menschen in Notunterkünften untergebracht, viele ohne Kontakt zu Hilfskräften und abgeschnitten von der Stromversorgung. Nach Schätzungen der Behörden sind bei Temperaturen um den Gefrierpunkt mindestens 1,4 Millionen Haushalte ohne Wasser und 2,5 Millionen Haushalte ohne Strom. Vielerorts werden Benzin und Lebensmittel knapp. Am Stadtrand von Sendai stand eine Raffinerie noch immer in Flammen.
Atomstreit in Deutschland
Die Entwicklung in Japan hat auch in Deutschland zwei Wochen vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg die Atomdiskussion wieder angefacht. Während Opposition und zehntausende Demonstranten eine Rückkehr zum Atomausstieg verlangten, stellt die Bundesregierung ihre Atompolitik infrage. Umweltminister Norbert Röttgen kündigte eine neue Grundsatzdebatte an und forderte den raschen Übergang zu anderen Energiearten. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ vorerst offen, ob es bei den gerade erst verlängerten Atomlaufzeiten bleibt. Beide CDU-Politiker erklärten die Sicherheit zur obersten Priorität.
Merkel kündigte an, sie wolle auch die deutschen Kernkraftwerke überprüfen lassen. Eine akute Gefahr für die Bundesrepublik sieht die Regierung aber nicht.
Schicksal von 50 Deutschen noch unklar
Möglicherweise sind auch Deutsche bei dem schweren Erdbeben in Japan zu Schaden gekommen. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte am Sonntag nach einer Sitzung des Krisenstabs in Berlin, es gebe derzeit noch keinen Kontakt zu etwa der Hälfte der rund 100 Deutschen aus der betroffenen Region. Der FDP-Politiker betonte zugleich, es gebe noch keine Hinweise auf deutsche Opfer nach dem Erdbeben und dem Tsunami.
Es sei unklar, ob sich die Deutschen, zu denen noch kein Kontakt besteht, zum Zeitpunkt der Katastrophe überhaupt in der Region befunden hätten. Es handele sich zumeist um deutsch-japanische Familien. Die deutschen Stellen vor Ort seien weiter bemüht, den Kontakt herzustellen. Die Lage sei jedoch unübersichtlich, daher sei eine endgültige Einschätzung noch nicht möglich. (we/dapd)