Essen. Weil zu wenige Leichen obduziert werden, bleiben in Deutschland mindestens 1200 Tötungsdelikte pro Jahr unentdeckt. Vor allem in NRW liegt die Zahl gerichtsmedizinischer Untersuchungen weit unter dem Bundesdurchschnitt.

Dank Fernsehserien wie „Der letzte Zeuge“, „Post Mortem“ oder „CSI“ ist der gewöhnliche Zuschauer längst eine Art Obduktionsfachmann geworden, schließlich flimmern Ärzte bei der Leichenschau fast täglich über den Bildschirm.

Die Fernsehwelt hat indes kaum etwas mit der Wirklichkeit gemein: Der Polizei in NRW gehen regelmäßig Tötungsdelikte durch die Lappen, weil zu wenige Leichen obduziert werden. Gerade mal zwei Prozent der Toten werden in Deutschland gerichtsmedizinisch untersucht, NRW liegt mit nur 1,2 Prozent sogar deutlich unter dem Durchschnitt. Zum Vergleich: In Skandinavien kommen 5 bis 25 Prozent aller Leichen vor der Beerdigung unters Messer.

In einer Studie aus dem Jahr 1997 prangert Professor Bernd Brinkmann von der Universität Münster an, „dass durch Fehler bei der ärztlichen Leichenschau in Deutschland über 10 000 nicht natürliche Todesfälle pro Jahr unerkannt bleiben, darunter wenigstens 1200 Tötungsdelikte.“

Schreibtischverfahren mit vielen Fehlern

In Deutschland wird ein Leichnam obduziert, wenn es Anhaltspunkte für eine Straftat gibt. Dafür muss der Arzt auf dem Totenschein als Todesursache „ungeklärt“ oder „nicht natürlich“ angekreuzt haben. „Ein Schreibtischverfahren, bei dem sehr, sehr viele Fehler gemacht werden“, sagt Professor Brinkmann.

Eine Erklärung für die ungewöhnlich niedrigen Obduktionszahlen liefert der Wissenschaftler gleich mit: „In Skandinavien und Österreich sind die Ermittlungsorgane mehr daran interessiert, Tötungsdelikte aufzuklären als bei uns.“

Länder, in denen mehr obduziert werde, zum Beispiel Norwegen, hätten auch eine doppelt bis dreifach so hohe Rate an Tötungsdelikten wie Deutschland. Zusätzlich komme es auf den Leichen schauenden Arzt an: „Ein Hausarzt ist oft nicht neutral“, sagt Brinkmann.

Das obduktionsträge Deutschland ist dafür spitze in Sachen Exhumierungen. Vor allem in NRW werden viele Tote erst nach der Beerdigung seziert. Der Grund ist, laut Professor Brinkmann, eine Wechselwirkung zwischen Obduktion und Exhumierung: „Je geringer die Obduktionsrate, desto höher die Zahl der Exhumierungen.“

Exhumierungen sind nicht so aussagekräftig

Eine Exhumierung jedoch ist verglichen mit einer Obduktion nicht nur teurer, sondern auch weniger aufschlussreich. Denn viele unnatürliche Todesursachen lassen sich bei einer Leiche, die schon zwei Wochen unter der Erde lag, gar nicht mehr nachweisen. „Die Aussagekraft der Exhumierung ist viel geringer“, bestätigt Dr. Andreas Freislederer, Oberarzt am rechtsmedizinischen Institut in Essen.

„Wenn die Leiche sich schon im Verwesungsprozess befindet, ist die Begutachtung sehr, sehr eingeschränkt. Schon nach zwei Wochen sind Verfärbungen oder Hämatome schwer nachzuweisen“. Einzig toxikologische Substanzen könnten auch noch nach längeren Zeiträumen aufgespürt werden.

Essener Staatsanwaltschaft ist „sezierfreundlich“

Eine Obduktion muss von der jeweiligen Staatsanwaltschaft angeordnet werden. „Das ist von Region zu Region sehr unterschiedlich“, sagt Freislederer. „Wir haben in Bochum und Essen zwei hervorragende Staatsanwaltschaften, die für NRW äußerst sezierfreudig sind.“

Rund 550 Obduktionen führt das Essener Institut jährlich durch, exhumiert werden im selben Zeitraum gerade mal zwei bis drei Leichen. „40 Prozent der obduzierten Leichen sind nicht eines natürlichen Todes gestorben“, sagt der Essener Experte.

Allerdings: „Wenn der Totenschein falsch ausgefüllt ist, geht das an uns vorbei“, gibt Freislederer zu bedenken. Problematisch werde es, wenn der Tote verbrannt wird: „Im Falle einer Einäscherung ist die Leiche weg.“ Deshalb ist es in NRW Vorschrift, dass jede Leiche vor dem Verbrennen noch einmal überprüft wird.

Professor Brinkmann ist überzeugt: „Mehr Obduktionen sind der einzige Ausweg“. Eine Arbeitsgruppe des nordrheinwestfälischen Justizministeriums prüft derzeit, ob und wenn ja wie die Qualität der ärztlichen Leichenschau zu verbessern sei.