Mülheim.

Mülheim. Seit Jahresbeginn hat er 22 Obduktionen in Mülheim durchgeführt. Doch Rechtsmediziner Dr. Lars Althaus sieht Verbesserungsmöglichkeiten. Denn deutschlandweit bleiben jährlich rund 1200 Tötungen unentdeckt. Beispiele dafür, wie leicht die tatsächliche Todesursache übersehen werden kann.

Es ist ein einziger Raum, im Keller des Klinikums Duisburg. Ein Raum, komplett gekachelt, groß, sauber, neonhell. Mit diesem Stahltisch an einem Ende. Hier, an diesem Tisch, sucht Dr. Lars Althaus nach letzten Antworten.

Der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin obduzierte in diesem Jahr bislang 22 Mülheimer. Zuständig ist er jedoch zudem für Duisburg, Oberhausen und nahezu den gesamten Niederrhein. Und so rechnet der 42-Jährige mit insgesamt 450 Obduktionen 2009. Zum Thema Leichenschauen befragt, sagt er sofort: „Ich würde es sehr begrüßen, wenn sie professioneller würden.”

Lars Althaus holt ein Buch hervor, dessen Titel für ihn schon sehr viel sagt: „Tote haben keine Lobby”. Sabine Rückert ist die Autorin. „Eine Gesellschaft muss man auch daran messen, wie sie mit ihren Verstorbenen umgeht, das ist der letzte Dienst, den wir einem Menschen erweisen”, sagt der Arzt.

Drei große Schwachpunkte

Es sind hanebüchene Geschichten, von denen der Mediziner zu berichten weiß, der seit fünf Jahren in Duisburg arbeitet. Doch zuvor verdeutlicht er die „drei großen Schwachpunkte im Leichenschauwesen”. Es ist nämlich so, dass ein Mediziner mit nur einem winzigen Kreuzchen entscheidet, was nach einem Todesfall weiter passiert. Auf dem Totenschein kann er entweder „natürlicher Tod” oder „nicht natürlicher Tod” bzw. „ungeklärte Todesursache” ankreuzen.

Alle Ärzte, ausgenommen sind lediglich Zahnärzte, dürfen Leichenschauen vornehmen. „Ob sie die nötige Erfahrung besitzen, die Motivation und auch keine Scheu vor Leichen haben oder vielleicht einfach überfordert sind, weil sie den Verstorbenen gar nicht kannten, wird nicht berücksichtigt”, nennt Althaus den ersten Schwachpunkt.

Unabhängigkeit nicht gewährleistet

Punkt zwei: Die Unabhängigkeit des Mediziners sei nicht immer gewährleistet. Viele Ärzte scheuen sich, die Leiche komplett zu entkleiden, was Vorschrift ist bei einer Leichenschau. Besonders in ländlichen Gegenden sei diese Scheu da. „In 50 Prozent der Fälle werden die Verstorbenen nicht entkleidet”, weiß Althaus. Außerdem: Gerade auf dem Land würde es als Schande empfunden, die Polizei im Haus zu haben. Deshalb haben Ärzte zu Althaus schon gesagt: „Ich würde selbst bei einem Verdacht keine ungeklärte Todesart bescheinigen, weil ich dann die Praxis dichtmachen könnte.” Punkt drei: „Ein Arzt, der einen Patienten behandelt hat und kannte, kann auf dem Totenschein ,natürliche Todesart' ankreuzen, selbst wenn er einen Kunstfehler begangen hat.”

So passierte es schon, dass ein Notarzt ein Kreuzchen bei „natürlicher Tod” für einen Mann machte, der drei Messerstiche in der Brust hatte und eine Kopfverletzung, durch eine Hantel verursacht. „Der Mann war blutüberströmt, und der Arzt war von einer Blutung durch eine Krampfader in der Speiseröhre ausgegangen”, schildert Althaus diesen spektakulären Fall.

Es geht nicht immer um Mord und Totschlag

Eine andere Geschichte: Ein Mann wurde überfallen und schwer mit einem Baseballschläger am Kopf verletzt. „Wochen nach dem Überfall ist das Opfer an einem Krampfanfall gestorben – als direkte Folge des Überfalls”, erinnert sich der Arzt. Doch auch da wurde dem Opfer zunächst ein natürlicher Tod bescheinigt, kam nur durch Zufall heraus, dass es anders war. Wäre das nicht passiert, „der Täter hätte nie für ein Tötungsdelikt verurteilt werden können”. Aber es geht nicht mal immer um Mord und Totschlag. Leichenschauen dienen auch dem Schutz lebender Personen. So hatte der Arzt einige Fälle, bei denen Kohlenmonoxidvergiftungen etwa durch defekte Heizungen übersehen wurden. „Wenn so etwas passiert, haben Sie im schlimmsten Fall kurze Zeit später den nächsten Todesfall in dem betreffenden Haus.”

Er erzählt noch von dem jungen Mann, der im neuen Haus tot unter der Dusche zusammenbrach. Er hatte einen Herzfehler. Die ärztliche Diagnose: natürlicher Todesfall. „Durch Zufall landete der Mann bei uns”, sagt Lars Althaus. „Wir entdeckten Strommarken an seiner Hand, schickten einen Polizeiwagen mit Blaulicht zum Haus des Verstorbenen, dessen Frau ebenfalls zu Tode gekommen wäre, wäre sie unter die Dusche gegangen.”

Denn die Todesursache war eine falsch verlegte Stromleitung, die die Duschstange unter Strom setzte.

Wie leicht die wahre Todesursache übersehen werden kann

Die Rechtsmediziner an ihrem Arbeitsplatz: In den Kühlkammern befinden sich die Toten, die untersucht werden müssen. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool
Die Rechtsmediziner an ihrem Arbeitsplatz: In den Kühlkammern befinden sich die Toten, die untersucht werden müssen. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool © WAZ FotoPool
Dr. Lars Althaus, Leiter der Rechtsmedizin,  ist für Duisburg, Oberhausen und nahezu den gesamten Niederrhein zuständig. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool
Dr. Lars Althaus, Leiter der Rechtsmedizin, ist für Duisburg, Oberhausen und nahezu den gesamten Niederrhein zuständig. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool © WAZ FotoPool
Präparator Thomas Spliehoff (l.) und Dr. Lars Althaus untersuchen am Obduktionstisch die Leichname. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool
Präparator Thomas Spliehoff (l.) und Dr. Lars Althaus untersuchen am Obduktionstisch die Leichname. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool © WAZ FotoPool
Seit mehreren Jahren arbeitet Dr. Lars Althaus als Rechtsmediziner im Institut für Rechtsmedizin an den Städtischen Kliniken in Duisburg-Wedau. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool
Seit mehreren Jahren arbeitet Dr. Lars Althaus als Rechtsmediziner im Institut für Rechtsmedizin an den Städtischen Kliniken in Duisburg-Wedau. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool © WAZ FotoPool
Schätzungsweise 1200 Todesfälle im Jahr werden seiner Schätzung nach als nicht natürliche Todesfälle übersehen. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool
Schätzungsweise 1200 Todesfälle im Jahr werden seiner Schätzung nach als nicht natürliche Todesfälle übersehen. Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool © WAZ FotoPool
1/5