Kairo. Nach tagelangen Massenprotesten herrschen in Ägypten zunehmend Chaos und Anarchie. Plündernde Banden zogen am Wochenende vielerorts durch die Straßen. Immer mehr EU-Staaten raten ihren Bürgern zur Ausreise.

Nach tagelangen Massenprotesten herrschen in Ägypten zunehmend Chaos und Anarchie. Plündernde Banden zogen am Wochenende vielerorts durch die Straßen. Immer mehr EU-Staaten raten ihren Bürgern zur Ausreise.

Wegen der chaotischen Lage in Ägypten raten immer mehr europäische Staaten ihren Bürgern, das nordafrikanische Land zu verlassen. Das Auswärtige Amt gab am Sonntag verschärfte Sicherheitshinweise heraus und warnte vor Reisen nach Kairo und ins Landesinnere. Die anhaltenden Proteste gegen die ägyptische Regierung mit Dutzenden Toten werden nach Angaben aus Brüssel auch Thema des EU-Außenministertreffens am (morgigen) Montag sein.

Urlaubern in Ägypten werde dringend geraten, Menschenansammlungen und Demonstrationen weiträumig zu meiden und die örtliche Medienberichterstattung aufmerksam zu verfolgen, erklärte das Auswärtige Amt. "Außerdem wird jedem Reisenden empfohlen, sorgfältig abzuwägen, ob Reisen nach Ägypten einschließlich der Urlaubsgebiete derzeit überhaupt angetreten werden", hieß es in Berlin. Die Reise- und Sicherheitshinweise würden laufend überprüft und der aktuellen Lage angepasst.

Die US-Botschaft in Kairo forderte alle Amerikaner auf, das Land zu verlassen. Die Schweiz rief ihre Staatsbürger ebenfalls zur Ausreise auf. Das niederländische Außenministerium erklärte, Holländer in Ägypten sollten "ernsthaft" erwägen, das Land zu verlassen. Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland empfahlen, auf alle nicht dringend notwendigen Reisen nach Ägypten zu verzichten. Das belgische Außenministerium riet von allen Reisen in das Land ab, ebenso die chinesische Regierung. Die Türkei wollte 750 Bürger nach Hause holen.Die Sicherheitslage im Land, in dem seit Dienstag Unruhen herrschen, geriet unterdessen außer Kontrolle: Tausende Häftlinge machten die Straßen unsicher. Sie hatten die chaotische Lage zur Flucht genutzt. Offenbar als Machtdemonstration ließen die Streitkräfte zu Beginn des Ausgehverbots um 16.00 Uhr zwei Kampfflugzeuge mehrfach über Kairo hinwegfliegen.

Tausende Häftlinge entkommen

Aus ägyptischen Sicherheitskreisen verlautete, bewaffnete Männer hätten in der Nacht zum Sonntag Gefängnisse angegriffen und auf Wachleute geschossen. Vier Haftanstalten seien betroffen, darunter eine nordwestlich von Kairo, wo Hunderte islamische Extremisten untergebracht seien. Nach stundenlangen Feuergefechten seien Tausende Häftlinge entkommen, darunter Hunderte islamische Extremisten, hieß es. Mehrere Häftlinge wurden den Angaben zufolge getötet, genaue Zahlen wurden aber nicht genannt. Truppen würden nach den Häftlingen suchen, teilweise mithilfe der Polizei, sagten Sicherheitsbeamte der Nachrichtenagentur AP. Das Staatsfernsehen berichtete, das Militär habe bereits Dutzende von ihnen wieder eingefangen.

Militärhubschrauber kreisten am Sonntag über Kairo, mindestens ein Einkaufszentrum brannte. Auf dem zentralen Tahrir-Platz der Hauptstadt war das Militär verstärkt im Einsatz. Zwei Schützenpanzer blockierten den Eingang zum Platz, wo Zehntausende Demonstranten marschierten. Soldaten arbeiteten mit freiwilligen Demonstranten zusammen, um Ausweiskontrollen durchzuführen und Taschen zu kontrollieren. Sie wollten nach eigenen Angaben nach Waffen suchen und verhindern, dass Polizisten in Zivil den Platz betreten.

Bürgerwehren formieren sich

„Das Heer schützt uns, sie werden es nicht zulassen, dass sich polizeiliche Eindringlinge hereinschleichen!“ rief ein freiwilliger Helfer den wartenden Menschenmengen zu. Auf dem Platz riefen Demonstranten: „Das Heer und die Menschen sind eine vereinte Hand!“

Unterdessen führte das Verschwinden der Polizei von den Straßen mehrere Großstädte dazu, dass mit Waffen und Schlagstöcke ausgerüstete Bürgerwehren provisorische Kontrollpunkte und Barrikaden aus Straßenabsperrungen und Steinen errichteten, um Plünderer von ihrer Nachbarschaft fernzuhalten. Jugendliche übernahmen in einigen Stadtteilen die Verkehrskontrolle. Sie vertrieben Gangs, die vorbeifahrende Autos angriffen.

Im vornehmen Kairoer Bezirk Samalek bildeten sich vor Lebensmittelgeschäften lange Schlagen von Menschen, die ihre Vorräte aufstocken wollten. In einigen Läden wurden die Trinkwasserflaschen knapp. Banken blieben auf Anordnung der ägyptischen Zentralbank am Sonntag geschlossen. Auch die Börse, die normalerweise sonntags die neue Handelswoche eröffnet, blieb geschlossen. Auf Aktienmärkten im Nahen Osten wurden wegen der Unruhen in Ägypten fallende Kurse verzeichnet.

Ägyptische Regierung verbietet Al Dschasira

Die ägyptische Regierung schloss unterdessen die Grenze zum Gazastreifen und verbot den arabischen Fernsehsender Al Dschasira. Das ägyptische Staatsfernsehen, die Hauptstadtbüros des Senders seien geschlossen und den Journalisten die Akkreditierung entzogen worden. Eine offizielle Begründung für die Maßnahme gab es nicht. Doch ägyptische Behörden hatten dem Sender mit Sitz in Katar in der Vergangenheit wiederholt Sensationsmache und vorurteilsbeladene Berichterstattung vorgeworfen.

Al Dschasira nannte das Verbot einen „Akt, der die Freiheit der Berichterstattung des Senders und seiner Journalisten ersticken und unterdrücken soll“. In diesen Zeiten schwerer Tumulte sei es aber unerlässlich, dass Stimmen von allen Seiten gehört würden, hieß es in einer Erklärung des Senders. Durch die Schließung des Büros wolle die ägyptische Regierung das ägyptischen Volk zensieren und zum Schweigen bringen. Al Dschasira kündigte an, seine Berichterstattung fortzusetzen, in welcher Form war aber unklar. Journalisten des Senders würden über Twitter neue Entwicklungen melden, hieß es.

Sorge um Ausländer in Ägypten

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Angesichts der gewaltsamen Unruhen in Ägypten bereiten Deutschland, die USA und weitere Länder zusätzliche Ausreisemöglichkeiten vor. Die US-Regierung erklärte am Sonntag, das Außenministerium plane Evakuierungsflüge für US-Bürger, die das Land freiwillig verlassen wollten. Die Flüge zu sicheren Zielen in Europa sollten am Montag beginnen. Die Türkei und Indien sandten am Sonntag Flugzeuge nach Ägypten, um eigene Staatbürger außer Landes zu bringen.

Die Lufthansa organisiert nach eigenen Angaben in Absprache mit dem Auswärtigen Amt einen Zusatzflug von Kairo nach Frankfurt, um Ausreisewilligen die Möglichkeit zur Rückkehr nach Deutschland zu geben. Die Maschine solle gleichzeitig mit dem planmäßigen Flug am Montagmorgen in Frankfurt starten und am Nachmittag aus Kairo zurückkehren, sagte ein Lufthansa-Sprecher.

Der Krisenstab des Außenministeriums beobachte die Entwicklungen in Ägypten und halte engen Kontakt zu Reiseveranstaltern und Fluggesellschaften, sagte eine Sprecherin. Am Sonntag riet das Ministerium unverändert von Reisen nach Kairo, Alexandria und Suez sowie in die Städte im Landesinnern ab. Reisenden werde dringend empfohlen, Menschenansammlungen und Demonstrationen weiträumig zu meiden. Für Deutsche, die in Ägypten leben, gibt es die Möglichkeit, sich bei der Botschaft zu registrieren, um gegebenenfalls dort Hilfe zu erhalten. Die deutsche Vertretung ist nach Angaben des Auswärtigen Amtes voll besetzt. Ein Abzug von Diplomaten und Mitarbeitern sei derzeit nicht geplant.

Flughafen in Kairo überfüllt

Die Türkei sandte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag fünf Maschinen der Turkish Airlines nach Kairo und Alexandria, um mehrere Hundert türkische Staatsbürger auszufliegen. Aus Indien startete am Sonntag eine Sondermaschine der staatlichen Fluggesellschaft Air India für einen Evakuierungsflug in die ägyptische Hauptstadt, die normalerweise von Air India nicht angeflogen wird. Griechenland hielt nach Angaben des Außenministeriums vom Sonntag mindestens zwei Militärflugzeuge bereit, um damit in Absprache mit den ägyptischen Behörden notfalls griechische Staatsbürger auszufliegen.

Der Flughafen in Kairo war nach Angaben einer Augenzeugin am Sonntag überfüllt. Zahllose Menschen hatten sich auf den Bänken und auf dem Fußboden niedergelassen und warteten auf einen Flug außer Landes. Einige hätten wegen verspäteter oder annullierter Fluge augenscheinlich bereits die Nacht dort verbracht, sagte eine Augenzeugin der Nachrichtenagentur Reuters am Telefon.

Deutsche Touristen drängen nicht auf Rückreise

Die drei größten deutschen Reiseveranstalter verzeichneten am Wochenende allerdings nach eigenen Angaben keine Wünsche von Urlaubern in Ägypten nach einem Reiseabbruch. Von den mehreren Tausend aus Deutschland angereisten Touristen habe niemand eine vorzeitige Rückreise beantragt, sagten Sprecher von TUI , Thomas Cook und Rewe Touristik am Sonntag. Am Sonntag startete eine Maschine mit Thomas-Cook-Urlaubern planmäßig von Deutschland zum Roten Meer. Einige Kunden hätten jedoch geplante Ägypten-Reisen umgebucht oder storniert, teilten Thomas Cook und Rewe mit. Viele der deutschen Touristen verbringen ihren Urlaub in der Ferienregion am Roten Meer.

TUI und Rewe sagten allerdings alle Tagesausflüge von Ägypten-Urlaubern in die Hauptstadt Kairo bis Anfang Februar ab. TUI bot Reisenden mit dem Urlaubsziel Kairo auch eine gebührenfreie Stornierung an. Die drei Unternehmen erklärten zudem, Kunden könnten Reisen in das nordafrikanische Land kostenlos umbuchen. Allein Rewe betreut nach eigenen Angaben derzeit 3100 Reisende in Ägypten. TUI und Cook äußerten sich nicht zu den entsprechenden Zahlen.

.„Einige Tage des Horrors machen nichts aus“

Der von Präsident Husni Mubarak verordnete Rücktritt der Regierung trug offenbar wenig zur Beruhigung der Lage bei. Demonstranten forderten am Sonntag den vollständigen Austausch der Regierung, die sie für die Armut, Arbeitslosigkeit, verbreitete Korruption und Brutalität durch Polizisten im Land verantwortlich machen. „Wenn der Präsident heute geht, wird das Chaos vorbei sein“, sagte der Lehrer Hussein Rijad. „Die Menschen leiden seit 30 Jahren, einige Tage des Horrors machen nichts aus.“

Angesichts der anhaltenden Massenproteste gegen seine Regierung hatte Mubarak am Samstag überraschend seine mögliche Nachfolge geregelt: Erstmals seit seinem Amtsantritt im Oktober 1981 ernannte er einen Stellvertreter. Vizepräsident soll der bisherige Geheimdienstchef Omar Suleiman, ein enger Vertrauter, werden. Die Personalentscheidung wurde als scharfe Kehrtwende von seinem bisherigen dynastischen Kurs gesehen, bei dem sein Sohn Gamal als favorisierter Nachfolger des 82-Jährigen galt. Als Nachfolger von Ministerpräsident Ahmed Nasif benannte Mubarak den bisherigen Luftfahrtminister Ahmed Schafik. (dapd/rtr)