Ruhrgebiet. .
Zehntausende blieben am Dienstag hängen in den Warnstreiks bei der Bahn. Sie entwickelten sich unmerklich, aber bis zum stundenlangen Stillstand.
Viertel nach sieben, und noch läuft der Laden. „Verspätung circa 5 Minuten“ steht auf der Anzeigetafel im Bochumer Hauptbahnhof hinter dem angekündigten Regionalexpress nach Essen, „Wenige Minuten später“ hinter dem nach Paderborn. Das ist alles nicht weiter auffällig, und die anderen Züge fahren gleich ganz nach Plan. „Schatz, es ändert sich nur ein bisschen“, sagt daher ein Mann in sein Mobiltelefon, und damit beschreibt er eigentlich recht genau, dass vom Bahnstreik praktisch nichts zu merken ist.
Eine dreiviertel Stunde später wird alles anders sein. Nichts geht mehr. Stillstand. Alle Räder . . . undsoweiter. Dieser Streik, das wird der Tag noch zeigen, dieser Streik ist unberechenbar. Ist ein Partisan.
Bahn-Mitarbeiter als Blitzableiter
Denn dann, nach dem nahezu unmerklichen Beginn, wird zum Beispiel Dortmund- Hauptbahnhof plötzlich eine Oase der Ruhe. Auf Gleis 16 steht der EC7 nach Chur, 100 Minuten Aufenthalt sind ihm prophezeit. Auf Gleis 8 der IC nach Binz, der seit 6.42 Uhr weg sein wollte. Auf Gleis 7 die S-Bahn nach Solingen, die sich nicht rührt; auf Gleis 5 die S-Bahn nach Witten . . . Fahrt aufgenommen hat jetzt nur der Streik, unter Strom stehen ausschließlich die Aufgeschmissenen, und sie belagern auf der Suche nach Hilfe die Bahner: Wo? Wann? Wie?
Wie zum Beispiel Richard Steuer, der eigentlich „Sicherheitsfachkraft im Verkehrswesen“ ist; aber im Moment sind seine Qualifikationen als Blitzableiter und als Datenbank deutlich mehr gefragt. „Nehmen Sie den Regionalexpress nach Köln, in Köln sich weiter durchschlagen, mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen“, sagt Steuer nach links. Sein Kollege nach rechts: „Achten Sie auf die Durchsagen. Sobald irgendwas in Ihre Richtung fährt, sagen wir’s durch.“ Gerade jetzt kommt die Durchsage: „Auf Gleis 16 Ihre nächste Reisemöglichkeit nach Hamm“ – da stieben Menschentrauben los in Richtung Gleis 16.
Zu diesem Zeitpunkt bestreiken Eisenbahner die Stellwerke in Dortmund, Düsseldorf und Köln; sie legen die Arbeit nieder bei der Instandhaltung und ausgerechnet in der Leitzentrale in Duisburg, was ein Wirkungstreffer ist, schließlich geht es an dieser Stelle gerade um Störungsbewältigung. Doch nun stehen die meisten Mitarbeiter bei Brötchen und Kaffee im Innenhof und folgen einer Ansprache, während in ganz NRW vor allem im Fernverkehr Verspätungen auflaufen von 80 Minuten, 100 Minuten, ja 120 Minuten. „Verlassen kann man sich heute besser auf nichts“, sagt Steuer – dieser Streik ist unberechenbar.
Auf den Straßen läuft alles normal
Es trifft Studenten und Berufspendler, Ostsee-Urlauber und Lkw-Überführer, trifft Geschäftsleute, Journalisten; es trifft Leute wie Hans-Günther Berg mit einem auswärtigen Arzttermin. „Es ist einfach Murphys Gesetz, das passt auf mich besonders gut“, sagt der Fröndenberger auf dem stockenden Weg nach Hannover. Murphys Gesetz, wonach alles schief geht, was schief gehen kann, greift sich ihn an diesem Morgen so: Weil vor allem Streiks im Nahverkehr angekündigt waren, „habe ich dem Zug nicht getraut“, so Berg; er fährt also mit dem Auto nach Dortmund und sieht nun, dass im Gegenteil der Fernverkehr nicht fährt. „Die sagen, 80 Minuten, wenn überhaupt . . .“ Und dann bitter: „Die werden noch solange streiken, bis die Bahn pleite ist!“
Dagegen ist an den meisten kleinen Bahnhöfen kaum etwas zu spüren von Verspätungen. Alltag in Haltern, in Gladbeck, überschaubare Folgen in Witten. „Mein Chef hat gesagt, ich soll es bis 10 Uhr versuchen“, sagt eine Frau aus Herbede. Und obwohl sie sich schon früh im Internet informierte, braucht sie nun fast zwei Stunden für ihre Strecke: „Ich konnte ja schlecht gestern Abend noch eben ein Auto kaufen“, sagt sie.
Dabei hätte man eigentlich erwartet, dass viele Pendler aufs Auto umsteigen – doch die Berechnungen des „Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste“ widerlegen das: 159 Kilometer Stau gab es am Dienstagmorgen auf den Autobahnen in NRW, „das entspricht dem üblichen Maß, es war ein ganz normaler Dienstag“, sagt Sprecher Klaus Heinrichsmeyer. Und auch die Busse und Bahnen seien „nicht überrannt worden“, sagt etwa die Bogestra-Sprecherin Sandra Bruns.
Dann, nach 10 Uhr, 11 Uhr, normalisiert sich auch der Bahnverkehr wieder. Langsam, und natürlich unberechenbar: Auf der Bochumer Anzeigetafel steht noch immer ein Intercity von 7.14 Uhr mit „20 Minuten Verspätung.“ Freilich ist es schon halb elf.