Essen. Während die CDU vom Ansehen der Kanzlerin profitierte und nur an die FDP Stimmen verlor, befindet sich die SPD dramatischer als zuvor in der strategischen Sackgasse: Ausgerechnet ihre Stammklientel geht ihr reihenweise von der Fahne - und wechselt zur Konkurrenz.

Die Totenstille im Versammlungssaal der SPD, die langen Gesichter, das blanke Entsetzen – vom schwärzesten Tag der Sozialdemokratie seit vielen Jahrzehnten zu sprechen, wie es ZDF-Moderatorin Bettina Schausten tat, traf die Lage. Gemessen daran, wirkte der erste Auftritt des unterlegenen SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier geradezu souverän. Von einem „bitteren Tag” sprach er – was auch sonst.

Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Ein Schlaglicht nur: Bei arbeitslosen Wählern wurde die Linke mit 26 Prozent stärkste Partei, wie Infratest dimap herausfand. Erst an zweiter Stelle folgt mit 22 Prozent die SPD. Den Linken ist es offenkundig gelungen, von links nachhaltig in die sozialdemokratische Stammwählerschaft einzubrechen, während von rechts eine sozialpolitisch zuletzt sehr moderate Union nagt.

CDU verliert an die Liberalen

Ob Angela Merkel mit ihrem zurückhaltenden Wahlkampf am Ende doch alles richtig gemacht hat, ist eine Frage der Perspektive. In der „Elefantenrunde” im Fernsehen wirkte sie zufrieden, blickte manchmal fast glücklich ihren Koalitionspartener in spe, Guido Westerwelle, an. Schwarz-Gelb ist geschafft, sogar klarer als es viele erwartet hatten. Doch CDU wie vor allem auch CSU können als Parteien mit ihren Ergebnissen nicht zufrieden sein. Es ist offensichtlich: Marktliberale, vermutlich auch einige konservative Wähler wandten sich von der Union ab und der FDP zu. Ob im Sinne eines „Wahlprotests” wie es Jürgen Rüttgers formulierte, oder dauerhaft, das muss die Zeit zeigen.

Andererseits: Hätte Merkel im Wahlkampf polarisiert, hätte dies womöglich nur die potenziellen Wähler der SPD mobilisiert, von denen jetzt wohl viele zu Hause geblieben sind. Der Politikwissenschaftler Gerd Langguth hält Unions-Wähler am Wahltag für disziplinierter. Das mag stimmen. Dass der SPD die niedrige Wahlbeteiligung nichts nutzte, liegt auf der Hand.

Merkels Ansehen brachte Punkte

Für den relativen Erfolg der CDU ist der persönliche Imagewert Angela Merkels ausschlaggebend. Sie hat nach Angaben der Forschungsgruppe Wahlen in allen Lagern das höchste Ansehen eines Kanzlerkandidaten bei einer Bundestagswahl nach 1990 erzielt. Bis zuletzt bewerteten 78 Prozent ihre Leistungsbilanz als eher gut und nur 18 Prozent als eher schlecht. Mag mancher in der CDU auch die Faust in der Tasche ballen – Merkel kann sich innerparteilich auf relativ ruhige Jahre einstellen.

Die zentrale Stütze des Wahlsieges der CDU/CSU sind laut Forschungsgruppe Wahlen die über 60-Jährigen: Hier holt die Union 40 Prozent, bleibt aber in allen anderen Altersgruppen unter ihrem Gesamtresultat. Auch die SPD erzielt mit 30 Prozent bei den über 60-Jährigen ihr bestes Ergebnis. Bei den unter 30-Jährigen hat sie mit minus 17 Prozentpunkten dramatische Einbußen, kommt noch auf 17 Prozent und liegt auf einem Niveau mit der FDP.

Die Grünen sind bei den unter 30-Jährigen mit 15 Prozent ebenfalls stark, die Linke holt in den Altersgruppen bei den 45- bis 59-Jährigen mit 14 Prozent ihr bestes Ergebnis. Die SPD kann den Status als stärkster Partei mit 35 Prozent (minus 13) nur noch bei Gewerkschaftsmitgliedern halten.

Dramatische Fluchtbewegung

11,1 Prozentpunkte hat die SPD verloren – das ist laut ARD der höchste Wert, den überhaupt jemals eine Partei in Deutschland zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bundestagswahlen abgeben musste. 1,86 Millionen ehemalige SPD-Wähler haben Stimmverweigerung betrieben. 1,22 Millionen haben stattdessen die Linke gewählt und jeweils knapp 890 000 die Union und die Grünen. Und sogar zur FDP sind 540 000 SPD-Wähler abgewandert. Das Ausmaß dieser Wählerflucht ist einmalig.

Bedrückend ist auch die strategische Ausgangslage. Die Linkspartei wird so schnell nicht mehr aus den Parlamenten verschwinden, auch dann nicht, wenn die SPD nach links rückt, wovon nun fast sicher auszugehen ist. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, der die Zusammenarbeit mit den Linken will, deutete das bereits kurz nach 18 Uhr an: „Wir müssen uns programmatisch neu aufstellen, das Andere wird sich von selbst ergeben.” Das „Andere” war die Frage nach dem künftigen SPD-Vorsitzenden, die Wowereit offiziell offen ließ. Klar ist: Geht es nach ihm und wohl auch anderen SPD-Linken ist die Ära Müntefering vorbei – nun aber endgültig.