Berlin. Die Wahlbeteiligung ist auf einem historischen Tief angekommen. Die Wahlbeteiligung lag bei nur 72 Prozent. Politologen warnen aber vor vorschnellen Urteilen und sehen die Demokratie nicht in Gefahr. Eine Analyse.
Nun hat er also zugeschlagen, der Nichtwähler: Mit etwa 72 Prozent lag die Beteiligung so niedrig wie noch nie bei Bundestagswahlen - noch einmal deutlich schlechter als beim Minusrekord 2005. Damals gingen noch 77,7 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen.
Politologen warnen vor einem Abgesang auf die demokratische Kultur: Die Entwicklung sei unschön, aber nicht dramatisch, sagten die Politikwissenschaftler Werner Patzelt, Heinrich Oberreuter und Lothar Probst am Sonntagabend der Nachrichtenagentur AP.
Dass die Wahlbeteiligung niedrig ausfallen könnte, hatten Meinungsforscher schon erahnt. Noch vier Wochen vor der Bundestagswahl war fast jeder Vierte unsicher, ob er überhaupt hingehen soll. Fünf Prozent der Wahlberechtigten sagten damals im ARD-Deutschlandtrend sogar, dass sie ganz sicher zu Hause bleiben. Nur 71 Prozent gaben an, dass sie sicher ihre Stimmen abgeben wollen - und viel mehr sind es dann auch nicht geworden, obwohl die Wahlkämpfer gerade die Unentschlossenen umwarben.
Demokratie nicht in Gefahr - noch nicht
"Natürlich muss man das ernst nehmen, dass sich ein erheblicher Teil der Wähler nicht mehr beteiligt", sagte der Bremer Politologe Probst zu dem Abwärtstrend. "Das gefährdet aber noch nicht die Demokratie." Die Parteien sollten dies ernst nehmen, könnten aber mit guter Politik die Wähler auch überzeugen, "dass Wählen einen Unterschied macht".
Politologe Oberreuter warnte davor, jedem Nichtwähler gleich Desinteresse oder Apathie nachzusagen. Viele SPD-Wähler seien nicht zur Urne gegangen, weil sie ihre eigene Partei nicht wieder erkannt hätten, aber auch niemand anderen wählen wollten. "Auch Sensibilität führt in die Abstinenz", sagte der Politologe.
Im internationalen Vergleich sei eine Wahlbeteiligung über 70 Prozent immer noch annehmbar, im deutschen Kontext allerdings sei sie "diskussionsbedürftig", sagte der Direktor der Akademie für politische Bildung in Tutzing. Immer weniger Menschen trauten den Parteien die Lösung von Problemen zu. Entscheidend für die Umkehr des Trends seien deshalb sichtbare Erfolge von Regierungsarbeit statt der Vertagung von Problemen.
20 Prozent mehr Wähler als Politikinteressierte
Der Dresdner Politikwissenschaftler sagte ebenfalls, mit einem Wert über 70 Prozent liege man immer noch deutlich höher als die sehr alte Demokratie USA. Außerdem seien damit 20 Prozent mehr Wähler zur Urne gegangen als sich nach Umfragen für Politik interessieren. Es habe eben keine Wechselstimmung im Land gegeben, und somit hätten die Bürger auch nicht den Eindruck gehabt, dass es sich um ein historisches Ereignis gehandelt habe.
Dennoch konstatierte Patzelt: "In der Bürgerschaft zeigt sich ein gewisser Rückzug auch von den Pflichten der Demokratie." In Deutschland gebe es ein "kommunikatives Präkariat" - Menschen, die sich nicht für Politik interessierten und sich eine Bewertung auch nicht zutrauten.
Studien zum "technischen Nichtwähler"
Auch andere Politologen glauben nicht, dass eine Wahlenthaltung immer Ausdruck von Politikverdrossenheit ist. Forscher Thomas Kleinhenz etwa geht davon aus, dass die definitiv Parteiverdrossenen nur etwa ein Drittel der Wahlverweigerer ausmachen. Viele haben andere Gründe, wie Studien belegen.
Da gibt es zum einen die "technischen Nichtwähler", die zum Beispiel wegen eines Umzugs nicht erreichbar sind. Sie machen etwa drei bis vier Prozent der Wahlberechtigten aus. Weitere zwei Prozent bleiben erfahrungsgemäß wegen plötzlicher Erkrankung oder anderen Unwägbarkeiten zu Hause. Nur vier bis fünf Prozent gelten als sogenannte Dauer-Nichtwähler, die die Wahl grundsätzlich verweigern, entweder aus religiösen Gründen wie die Zeugen Jehovas oder aus ideologischen, weil sie die parlamentarische Demokratie als Ganzes ablehnen.
Schwächere Parteibindungen im Osten
Die größte Gruppe bilden die "konjunkturellen Nichtwähler", die von Wahl zu Wahl zwischen Beteiligung und Abstinenz wechseln. Sie interessieren die Experten am meisten, weil sie als mobilisierbar gelten und die parteipolitischen Kräfteverhältnisse deutlich beeinflussen können. Besonders groß ist ihr Anteil im Osten, wo Wahlnorm und Parteibindungen schwächer ausgeprägt sind als im Westen, wie die Parteienforscher Jürgen Falter und Harald Schoen in einer Studie zur Bundestagswahl 2002 darlegen.
Die Vermutung, dass Nichtwähler zum Großteil in sozial schwachen Schichten oder gesellschaftlichen Randgruppen zu finden sind, gilt inzwischen als widerlegt. Auch wenn die Wahlbeteiligung mit wachsender Bildung steigt - Politologe Kleinhenz kommt in seiner Studie aus den 90er Jahren zu dem Ergebnis, dass die meisten Nichtwähler sowohl sozial als auch politisch "Bürger der Mitte" sind. (ap)