München. Zum Auftakt des Prozesses gegen den mutmaßlichen KZ-Wächter John Demjanjuk hat dessen Anwalt behauptet, der 89-Jährige sei ein Überlebender des Holocaust, kein Täter. Die Vertreter der Anklage widersprachen heftig. Im Gericht kam es infolge eines riesigen Andrangs zu tumultartigen Szenen.

Mit einem Befangenheitsantrag gegen Richter und Staatsanwaltschaft hat am Montag in München der Prozess gegen den mutmaßlichen früheren KZ-Wachmann John Demjanjuk begonnen. Der Verteidiger des 89-Jährigen, Ulrich Busch, warf dem Gericht Willkür vor. Die meisten der im Vernichtungslager Sobibor eingesetzten SS-Männer seien freigesprochen worden, aber zum Dienst gezwungene ukrainische Hilfskräfte würden heute angeklagt, kritisierte Busch.

Die Anklage wirft dem 89-Jährigen vor, 1943 als einer von rund 100 bewaffneten Aufsehern im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen die Opfer aus den Zügen direkt in die Gaskammern getrieben zu haben. Er bestreitet das.

Demjanjuk muss sich wegen Beihilfe zum Mord an 27.900 jüdischen Männern, Frauen und Kindern vor dem Landgericht München verantworten. Er ist der erste ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, der sich wegen Beihilfe zum Holocaust vor der deutschen Justiz verantworten muss.

Demjanjuk soll ein sogenannter Trawniki gewesen sein, einer jener rund 3.000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Nazis ab 1942 als Handlanger beim Massenmord an den Juden in Polen heranzogen. Der Prozess ist eines der letzten großen Verfahren zu NS-Verbrechen.

Anwalt vergleicht KZ-Insassen mit «Hilfswilligen»

Für Empörung unter den anwesenden KZ-Überlebenden und Angehörigen sorgte der Vergleich des Verteidigers Busch, die SS-Hilfswilligen von Sobibor stünden «auf gleicher Stufe» wie die im Gerichtssaal anwesenden KZ-Überlebenden, da auch sie auf Befehl der SS dort hätten arbeiten müssen, um ihr Leben zu retten.

Der Sobibor-Überlebende Jules Schelvis sagte dazu: «Das ist Unsinn.» Auch der Anwalt mehrerer der anwesenden 22 Nebenkläger, Cornelius Nestler, wies den Vergleich empört zurück: «Die Trawniki mordeten, die Juden nicht!»

Nestler erklärte zu dem Befangenheitsantrag Buschs, sollte es in der Vergangenheit Fehler der Justiz gegeben haben, dürften diese nicht wiederholt werden. Das Gericht stellte den Antrag am Montag zu einer späteren Entscheidung zurück. Am Nachmittag sollte zunächst die Anklage verlesen werden.

Nur drei Stunden Verhandlung täglich

Demjanjuk wurde mit einem Rollstuhl und einer blauen Decke zugedeckt in den Gerichtssaal gebracht. Er trug eine blaue Schirmmütze und ließ das Blitzlichtgewitter der Fotografen mit geschlossenen Augen über sich ergehen. Ärzte und Psychiater halten den 89-Jährigen für verhandlungsfähig, aber nur drei Stunden täglich.

Unmittelbar vor dem Auftakt des Prozesses unterstrich der Holocaust-Überlebende Blatt die Bedeutung des Verfahrens. «Bis jetzt hat man nur über deutsche Täter prozessiert, noch nicht über Hilfswachmänner aus den anderen Ländern», sagte Blatt, der das Vernichtungslager Sobibor überlebt hat, in München. «Ein Wachmann in der Todesfabrik war ein Mörder. Man sollte sagen, wie das ausgesehen hat in Sobibor.»

Das Verfahren gegen Demjanjuk sei einer der «letzten Prozesse» dieser Art. Er sei «wichtig, denn die Leute vergessen». Mit Blick auf Demjanjuk fügte Blatt hinzu: «Er hat sich so viele Jahre verstecken können.»

Welt richtet Augenmerk auf Prozess

Nach Ansicht des Rechtsausschussvorsitzenden im Bundestag, Siegfried Kauder (CDU), ist das Verfahren ein Prüfstein für das weltweite Ansehen Deutschlands. «Die ganze Welt wird auf diesen Prozess ein Augenmerk richten und wird genau kontrollieren, wie Deutschland mit solchen Thematiken umgeht. Und ich finde es gut, dass Deutschland sich entschieden hat, diesen Mann vor einem deutschen Gericht zur Verantwortung zu ziehen», sagte Kauder.

Auch der frühere Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, sagte in München: «Es ist richtig und wichtig, dass dieser Prozess stattfindet. Aber es ist nicht richtig, dass deutsche Schreibtischtäter nicht verurteilt oder freigesprochen wurden.» Friedman verwies auf die Vorbildfunktion des Prozesses: «Man muss den Anfängen wehren. In Deutschland gibt es viele Zeichen, dass diese Anfänge wieder überschritten sind. Dieser Prozess soll zeigen, wohin das führt.»

Wegen des großen Andrangs und der scharfen Sicherheitsvorkehrungen begann der Prozess mit einstündiger Verspätung. Bereits Stunden vor Prozessbeginn hatten sich lange Schlangen vor dem Landgericht gebildet. Allein 270 Journalisten aus dem In- und Ausland sind akkreditiert. (ddp/ap)