München. Es ist wohl einer der letzten großen NS-Kriegsverbrecherprozesse: John Demjanjuk muss sich wegen Beihilfe zum Mord an 27.900 Juden verantworten. Der Prozess hat mit Tumulten und einem Befangenheitsantrag der Verteidigung begonnen. Im Saal sind auch Überlebende der "Hölle von Sobibor".

Mit einem Befangenheitsantrag der Verteidigung hat am Montag in München einer der voraussichtlich letzten großen NS-Kriegsverbrecherprozesse begonnen. Der 89-jährige Angeklagte John Demjanjuk sei im Mai ungerechtfertigt aus den USA nach Deutschland «zwangsdeportiert» worden, sagte dessen Anwalt Ulrich Busch am Montag vor dem Landgericht München II. Demjanjuk muss sich wegen Beihilfe zum Mord an 27.900 Juden verantworten.

Demjanjuk wurde in einem Rollstuhl in den Sitzungssaal gebracht, nach einer Sitzungspause verbrachte er die zweite Hälfte des ersten Verhandlungstags liegend auf einer Krankenliege. Außerdem ließ er sich in einer kurzen Pause eine schmerzstillende Spritze geben. Wegen seiner altersbedingt eingeschränkten Gesundheit kann gegen Demjanjuk nur zweimal 90 Minuten pro Tag verhandelt werden. Demjanjuk wirkte weitgehend abwesend und antwortete nicht auf Fragen.

Gutachter: Keine Vorzeichen von Demenz

Die Frage der Verhandlungsfähigkeit bestimmte zunächst den ersten Prozesstag. Drei ärztlichen Gutachter kamen trotz verschiedener Erkrankungen zu dem Schluss, dass Demjanjuk verhandlungsfähig ist. So gibt es bei ihm trotz seines Alters keine Vorzeichen einer Demenz, eine chronische Blutkrankheit wurde als derzeit nicht gefährlich eingestuft, außer einer depressiven Verstimmung sei er auch psychisch stabil. Wegen der Dauer der ärztlichen Gutachten konnte am ersten Prozesstag nicht mit der Verlesung der Anklage begonnen werden.

Laut Staatsanwaltschaft soll Demjanjuk als sogenannter Trawniki, als ein zwangsverpflichteter Kriegsgefangener, 1943 ein halbes Jahr lang Wächter im Vernichtungslager Sobibor im damals von Deutschland besetzten Polen gewesen sein. In dieser Zeit starben dort mindestens 27.900 Juden, weshalb er wegen Beihilfe zum Mord in 27. 900 Fällen angeklagt ist. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu fünfzehn Jahre Haft.

Demjanjuks Verteidiger Busch sagte, sowohl das Gericht als auch die Staatsanwälte seien befangen. Beide Seiten hätten Demjanjuk «objektiv sachwillkürlich» vor Gericht gebracht. Busch begründete dies damit, dass Gericht und Staatsanwaltschaft aus den vorliegenden Akten wissen müssten, dass Demjanjuks Vorgesetzte allesamt freigesprochen wurden. «Man fragt sich, wie das sein kann? Setzt nicht Beihilfe eine Haupttat voraus?», fragte Busch. Der Vorsitzende Richter Ralph Alt kündigte an, über den Befangenheitsantrag zu gegebener Zeit zu entscheiden.

Der Leiter des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Centers, Efraim Zuroff, sagte der Nachrichtenagentur AFP, Demjanjuks Auftreten vor Gericht auf einer Krankenliege sei «Hollywood». Er könne gut verstehen, warum Demjanjuk sich so verhalte, er wolle Mitleid erzeugen. «Es gibt aber einen großen Gegensatz zwischen Demjanjuks sensibler eigener Empfindlichkeit und der Art, wie mit den Juden in Sobibor umgegangen wurde.»

Tumultartige Szenen

Es sind tumultartige Szenen, die sich zum Auftakt des Kriegsverbrecherprozesses abspielen. Mehr als 200 akkreditierte Journalisten drängen sich vor dem Gebäude, um einen der 68 begehrten Presseplätze im Gerichtssaal zu ergattern. Einige Reporter stehen bereits seit kurz vor 5 Uhr in der Kälte - die meisten stellen sich gegen 7 Uhr für das Verfahren an, das um 10 Uhr eröffnet werden soll.

Um 7.15 Uhr öffne das Gerichtsgebäude, wurde vor dem Prozessauftakt bekanntgegeben. Doch kurzfristig entschließt sich das Gericht, wegen des großen Ansturms die Demjanjuk-Prozessbeobachter erst gegen 9 Uhr in das Gerichtsgebäude einzulassen. Unter den Medienvertretern herrscht absolutes Unverständnis, immer wieder sind Pfiffe zu hören, es wird gedrängelt und geschubst.

Unter den Wartenden wird schließlich eine Resolution aus der «Demjanjuk-Sammelzone» herumgereicht, auf der die meisten auch sofort empört unterschreiben. Auf dem Papier heißt es: «Hiermit protestieren wir aufs Schärfste gegen die unprofessionelle Organisation.» Immer wieder sind Sprechchöre zu hören: «aufmachen, aufmachen».

Als gegen 9 Uhr eine Tür des Haupteingangs geöffnet wird, geht es im Gebäude kaum besser weiter. Jeder muss sich einer ersten und anschließend noch einer zweiten, etwas gründlicheren, Sicherheitskontrolle unterziehen. Schließlich müssen noch an einer Garderobe Handys und Laptops abgegeben werden, jeder einzelne Personalausweis oder Reisepass wird kopiert.

Überforderte Polizisten brüllen in die Menge

Durch einen eigens für den Ansturm auf den Demjanjuk-Prozess aus Holzbrettern gezimmerten Gang schieben und drängen sich die Journalisten von Station zu Station. Die meiste Zeit geht gar nichts vorwärts. Überforderte Polizisten brüllen in die Menge, es solle doch nicht gedrängelt werden. Wütende Journalisten äußern wieder und wieder ihren Unmut über die Zustände.

Noch einmal zwei Stunden dauert es schließlich innerhalb des Gerichtsgebäudes, bis die Medienvertreter und Prozessbeobachter in den Gerichtssaal vorgelassen werden. Die Verhandlung beginnt mit mehr als einer Stunde Verspätung - etwa 20 internationale Medienvertreter schaffen es nach Angaben des Sicherheitspersonals nicht, in den voll besetzten Saal zu kommen.

Als sich der Vorsitzende Richter Ralph Alt zum Verhandlungsauftakt für die Verspätung entschuldigt und anführt, das Gericht habe die Dauer des Einlassprozesses zuvor einfach nicht abschätzen können, brandet im Zuschauerraum höhnisches Gelächter auf.

Die Hölle von Sobibor überlebt

Als der Angeklagte John Demjanjuk im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben wird, steht Thomas Blatt auf. Der 82-Jährige hat die Hölle von Sobibor überlebt - aber seine Mutter, sein Vater und sein zehnjähriger Bruder Henry waren sofort nach der Ankunft der Familie in dem Vernichtungslager im Juni 1943 vergast worden. Sie sollen unter den 27.900 Juden gewesen sein, zu deren Ermordung Demjanjuk Beihilfe geleistet haben soll.

Mit geschlossenen Augen, bis zum Hals in eine blaue Decke gehüllt, lässt der 89-jährige Angeklagte das minutenlange Blitzlichtgewitter der Fotografen beim Prozessauftakt am Montag über sich ergehen. Auch Thomas Blatt zieht einen Fotoapparat aus der Tasche und macht ein Bild von dem Mann, der seine Familie ins Gas getrieben haben könnte.

Unstrittig ist, dass der gebürtige Ukrainer 1940 zur Roten Armee eingezogen worden und im Mai 1942, mit 22 Jahren, von der Wehrmacht gefangen genommen worden war. Er behauptet, bis kurz vor Kriegsende in einem Gefangenenlager gewesen zu sein - aber die Anklage wirft ihm vor, er habe sich von der SS im Ausbildungslager Trawniki als sogenannter Hilfswilliger zum Wachmann ausbilden lassen.

Deutsche Kommandosprache, NS-Ideologie und das Zusammentreiben von Juden standen auf dem Stundenplan. Vom März bis September 1943 sei Demjanjuk beim Massenmord in Sobibor im Einsatz gewesen.

"Er soll der Welt sagen, was passiert ist!"

«Das ist einer der letzten Prozesse. Er soll der Welt sagen, was passiert ist in Sobibor!», sagt Blatt. «Ein Wachmann in einer Todesfabrik war ein Mörder», sagt der 82-Jährige, der als 15-Jähriger von einem SS-Mann zu seinem persönlichen Schuhputzjungen bestimmt worden war und nur so überlebt hatte. Aber ob Demjanjuk verurteilt werde, sei ihm egal. «Er soll nur die Wahrheit sagen!»

Doch Demjanjuk schweigt. Statt dessen provoziert sein Verteidiger Ulrich Busch die anwesenden Überlebenden und die 20 Familienangehörigen Ermordeter. Der Trawniki-Mann «steht auf gleicher Stufe wie Thomas Blatt» und Jules Schelvis, sagt der Anwalt, und ein empörtes Raunen geht durch den Gerichtssaal. Die Trawniki hätten wie die sogenannten Arbeitsjuden in Sobibor für die SS gearbeitet, «um ihre Haut zu retten», sagt Busch.

Und er beantragt, Schwurgericht und Staatsanwälte wegen Befangenheit abzulehnen und den Prozess einzustellen, weil die SS-Männer von Sobibor 1965 als kleine Befehlsempfänger freigesprochen worden seien, während jetzt die zum Dienst gepressten Kriegsgefangenen vor Gericht gezerrt würden.

Überlebende weisen Vergleich empört zurück

Frühere Unterlassungen der deutschen Justiz seien kein Grund für eine Einstellung des Verfahrens - der Fehler dürfe «hier und heute nicht wiederholt werden», hält Opferanwalt Cornelius Nestler entgegen und weist Buschs Vergleich empört zurück: «Die Trawniki mordeten, die Juden nicht!», sagt er.

Der 87-jährige Schelvis sagt nur: «Das ist Unsinn.» Aber solches sei man aus NS-Prozessen ja schon gewöhnt. Dann verteilt ein Sanitäter Wasser an die zumeist betagten Nebenkläger.

Dass Demjanjuk in Sobibor und später im KZ Flossenbürg war, will die Staatsanwaltschaft mit seinem SS-Dienstausweis, Verlegungslisten und Einträgen im KZ-Waffenbuch sowie mit Zeugenaussagen anderer ehemaliger Trawniki beweisen. Und wer in Sobibor war, habe beim Massenmord mitgewirkt.

Das Grauen der Todesfabrik wird in der Anklage fast unerträglich exakt geschildert. Die Waggons seien von SS- und Trawniki-Männern umstellt und gewaltsam entladen worden.

Fortwährende Misshandlungen

Ein SS-Mann sagte den Ankömmlingen laut Anklageschrift, sie würden zu Arbeitseinsätzen gebracht, müssten aber zuerst duschen. Mit Stöcken und Schusswaffen bewaffnete Angehörige der ukrainischen Wachmannschaft trieben die Juden dann demnach zu den angeblichen Duschen. Etwa 80 Personen wurden jeweils in eine Gaskammer gedrängt, die vier mal vier Meter groß gewesen sei. Mit Motorabgasen seien die Opfer getötet worden.

Insgesamt 250.000 Menschen wurden in Sobibor von etwa 25 SS-Leuten und 125 Trawniki ermordet. Thomas Blatt konnte bei einem Häftlingsaufstand im Oktober 1943 entkommen. «Die Leute vergessen. Demjanjuk muss sagen, wie das ausgesehen hat in Sobibor», fordert er.

Die Anklageschrift kann am Montag nicht mehr wie geplant verlesen werden. Wegen des großen Andrangs an Journalisten und sonstigen Zuhörern sowie den strengen Sicherheitsvorkehrungen hat der Prozess schon mit einstündiger Verspätung begonnen. Zwischendurch muss er unterbrochen werden, damit Demjanjuk wegen Kopfschmerzen behandelt werden kann. Verhandlungsfähig ist der 89-Jährige aber, wie in einer langwierigen Diskussion zum Abschluss des ersten Tages festgestellt wird. (ap/afp)