Essen. Die einen inszenieren sich, die anderen distanzieren sich nicht von Gewalttätern – und allesamt ignorieren sie die Fakten. Der Anfang vom Ende?
Und jetzt auch noch Al Gore. Der ehemalige Vizepräsident der USA, jenes Landes also mit den nach wie vor höchsten Pro-Kopf-Treibhausgas-Emissionen nach China, muss natürlich auch noch schnell auf den „Lützi“-Zug aufspringen. Er unterstütze die Bemühungen der Fridays-for-Future-Ikone Greta Thunberg, „ein Kohlebergwerk in Deutschland zu stoppen“, sagte Gore am Mittwoch auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, ohne die Vorgänge und Zusammenhänge rund um den rheinischen Braunkohle-Tagebau auch nur im Entferntesten zu kennen. Woher auch? Und warum auch?
Lützerath ist zu einem funktionierenden internationalen Symbol geworden, einem falschen Mythos mit einem fast schon religiösen Anstrich, der die energiepolitischen Fakten dick übertüncht. Gerne würde ich Al Gore darum fragen, auch wenn er die Eins-zu-eins-Übersetzung des deutschen Idioms kaum verstehen dürfte:
„Dear Mr Vice-President, do you have all your cups in the cupboard?“
Drei Gruppen von Demonstranten
Aber sehen wir uns noch einmal mit etwas mehr Distanz die Protestierenden in und um Lützerath an. Man erkennt dann leicht eine Dreiteilung, in der bereits der Kern einer Spaltung der Klimabewegung stecken könnte.
Die größte Gruppe bilden Menschen, die sich ehrlich sehr berechtigte Sorgen um die Zukunft des Planeten, um die Zukunft unserer Kinder machen. Viele von ihnen leben ein bürgerliches Leben und sind, wenn sie wählen gehen, eher den Grünen als anderen Parteien zugeneigt. Sie finden, dass auch die deutsche Politik nicht schnell und konsequent genug gegen den Klimawandel vorgeht, obwohl in Berlin mit der Ampel die wohl klimaprogressivste Bundesregierung aller Zeiten sitzt. Manche von ihnen sind den Grünen deswegen vermutlich gar nicht böse. Sie verstehen, dass in einer Regierung Kompromisse gemacht werden müssen, und dass der Alltag in der Realpolitik, die zudem von einem Angriffskrieg mitten in Europa überschattet wird, anders aussieht als in der Opposition.
Distanzierung nicht ausreichend
Diese Menschen nehmen ihr Demonstrationsrecht friedlich wahr. Sie wollen den Druck erhöhen, mit legalen Mitteln. Sie lehnen das System nicht ab, in dem wir leben, sondern wollen als aktive Bürgerinnen und Bürger die legalen Mittel zur Mitgestaltung nutzen. Sie beleben das System. Sie kommen mit Plakaten, einige von ihnen mit ihren Kindern an der Hand, sie singen, sie sind keine Gewalttäter und haben keinerlei Interesse an einer Konfrontation mit der Polizei. Zwei Dinge allerdings müssen sie sich vorhalten lassen. Sie verstehen erstens nicht, warum Lützerath der falsche Ort für ihren Protest ist. Und sie distanzieren sich zweitens nicht ausreichend von Aktivistinnen und Aktivisten, die das Recht brechen, die sich und andere in Gefahr bringen und sogar Gewalt anwenden.
Das nämlich ist die zweite, kleinere, aber leider nicht kleine Gruppe, über die hier zu sprechen ist. Auch diese lässt sich freilich ausdifferenzieren. Wer mit Steinen oder Molotow-Cocktails nach Polizisten wirft, sie mit Latten schlagen will oder gar versucht, an ihre Waffen zu gelangen, ist ein krimineller Chaot, der hinter Schloss und Riegel gehört. Nach Angaben des NRW-Innenministers kommen manche dieser Störer von weit her angereist, um sich auszutoben. Diese Systemverachter bewegen sich im Windschatten von Menschen, die selbst zwar nicht aktiv gewalttätig sind, die aber in ihrer Hybris meinen, über dem Gesetz zu stehen, weil ihr Widerstand einem höheren Zweck dient.
Aufrufe zur Gewalt
Was etwa ist von einem Sprecher auf der Kundgebungsbühne zu halten, der nach übereinstimmenden Aussagen verschiedener Reporter die Demo-Teilnehmer explizit dazu aufruft, sich über Anweisungen der Polizei hinwegzusetzen und in das abgesperrte Lützerath vorzudringen? Zitat: „Lasst euch von der Polizei nicht aufhalten. Wir sind mächtig. Wir sind auf der Seite der Gerechtigkeit. Wir lassen uns von diesem repressiven System nicht aufhalten. Wir stoppen diesen Tagebau. Macht alles, was ihr für richtig haltet.“ Zitat Ende. Das mit den fehlenden Tassen im Schrank hatten wir ja schon weiter oben ...
Spätestens an dieser Stelle muss man von den bürgerlichen, friedlich eingestellten Demonstranten erwarten, dass sie eine solche Veranstaltung verlassen, um sich nicht mitschuldig zu machen an der drohenden Eskalation. Das sei zu viel verlangt, finden Sie, gar ungerecht? Wie war es denn in der Corona-Krise, als Corona-Skeptiker und Querdenker an Demonstrationen teilgenommen hatten, bei denen auch Rechtsradikale für jeden erkennbar mitmarschierten? Hatten wir da nicht auch zurecht Distanzierung angemahnt? Hatten wir nicht zurecht darauf hingewiesen, dass angeblich bürgerlicher Protest Seite an Seite mit Verfassungsfeinden keine Glaubwürdigkeit besitzt?
Ein bisschen Trump in Thunberg
Bleibt noch eine klitzekleine, dafür sehr mediengewaltige Gruppe: die der Klima-Prominenten, der Al-Gore-Erbinnen zusagen. Sie durchschauen alles. Ob sie Greta Thunberg oder Luisa Neubauer heißen. Sie ziehen die Kameras auf sich, sie inszenieren sich ebenso professionell wie gnadenlos, sie beklagen angebliche Polizeigewalt und nehmen ihrerseits die Gewalt, die von Aktivisten ausgeht, billigend in Kauf. In einem solchen Klima kann sich dann auch das Narrativ bilden und lange halten, Polizisten hätten Demonstranten so lebensgefährlich verletzt, dass gar ein Hubschrauber zur Rettung kommen musste. Was soll man sagen? Es gab keinen Hubschrauber, und die lebensgefährlich Verletzten sucht man – zum Glück – bis heute vergeblich.
Der Trumpismus hat es weit gebracht, bis hinein in die Klimabewegung. Wahrheit oder Täuschung, Fakten oder Propaganda? Tatsache ist: Ob Lützerath bleibt oder nicht, ist völlig unerheblich fürs Weltklima. Das Geisterdorf verschwindet, aber dafür bleiben fünf Dörfer erhalten, die eigentlich ebenfalls hätten abgerissen werden sollen. 280 Millionen Tonnen Braunkohle bleiben, dank des Kompromisses mit RWE, im Boden; der Ausstieg aus der Kohleverstromung in NRW wurde von 2038 auf 2030 vorgezogen. Lützerath ist ein Symbol für einen konstruktiven Kompromiss zwischen Klimaschutz und Energiesicherung; der Protest dagegen ist nichts als destruktiv. Wer sich nach dem lautstarken Dagegensein den „Lützi“-Schlamm aus der Hose waschen will, braucht mindestens das 60-Grad-Vollwasch-Programm. Schwierig, so ganz ohne Strom ...
Neubauer versus Neubaur
Und so macht das kleine „e“ den Unterschied aus zwischen Gesinnung (dafür steht die grüne Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer) und Verantwortung (dafür steht die grüne NRW-Wirtschafts-, Klima- und Energieministerin Mona Neubaur). Neubauer versus Neubaur. Eine solche Spannung kann beleben oder lähmen. Im Moment droht der Klimabewegung selbstverschuldet Letzteres.
Auf bald.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
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