Essen. Erst gedemütigt, dann geschlagen: Auf das politische Desaster folgt das sportliche. Im fußballverrückten Ruhrgebiet interessierte das – nur mich?

Mittwoch, kurz nach halb drei, Elfmeter für Deutschland! Ich stehe am Schultor und versuche, mit einem Auge auf den Live-Stream meines Handys zu blicken und mit dem anderen meinen neunjährigen Sohn im Türrahmen zu entdecken. Da kommt er endlich. „Schnell“, rufe ich, „wir haben einen Elfmeter.“ In null Komma nichts versammeln sich lauter Viertklässler um mich herum und starren auf den kleinen Bildschirm. Ilkay Gündogan läuft an, schießt – und trifft. Die Kinder flippen aus, der Papa mit dem Handy in der Hand auch. Wir tanzen, jubeln und klatschen uns ab, als hätten wir nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ein Moment der Freude, der Normalität. So sollte sich eine Fußball-WM anfühlen.

Doch diese WM ist anders. Die Fifa und auch der DFB haben durch ihr Verhalten die Stimmung zerstört und den Fußball, so ist zu befürchten, nachhaltig beschädigt. Mir tut das leid, für diesen großartigen, traditionsreichen Sport, für die vielen ehrlichen Fans und auch für die Kinder. Mein Sohn trainiert mit seinen besten Kumpels wöchentlich beim TSV Einigkeit Dornap-Düssel, irgendwo zwischen Wuppertal und Wülfrath. Er ist fußballbegeistert, jetzt schon. Im Traum würde es mir nicht einfallen, ihm und mir zu verbieten, die Spiele der deutschen Mannschaft bei dem wichtigsten Turnier zu verfolgen, das nur alle vier Jahre stattfindet. Er und ich – wir können nichts dafür, dass korrupte Funktionäre dieses Weltereignis an einen Wüstenstaat vergeben haben, der Menschenrechte mit Füßen tritt.

Auf zur zweiten Halbzeit!

„Komm, Papa, wir fahren schnell nach Hause“, sagt mein Sohn, „ich will zur zweiten Halbzeit am Fernseher sitzen.“ Wir fahren durch die geschmückte Stadt. Deutschlandfahnen an den Fenstern, an den Autos? Nein, keine einzige. Dafür schon jede Menge Adventsdeko. Grüne Zweige und weiße Lichter statt Schwarz-Rot-Gold. Uns ist das jetzt mal für zwei Stunden schnuppe. Deutschland führt 1:0. Wir möchten uns darüber freuen. Wir freuen uns darüber.

Natürlich hätte ich mir kurz vor Anpfiff ein stärkeres, ein mutigeres Signal der Nationalmannschaft gewünscht. Von mir aus hätten alle Nationalspieler mit der One-Love-Binde auflaufen können. Der DFB hätte es darauf ankommen lassen sollen: dass die Fifa es vor den Augen der ganzen Welt wagt, die Fußballer dafür zu bestrafen, sich für Diversität einzusetzen, der deutschen Mannschaft gar einen Punkt abzuziehen.

Besser den Mund aufmachen

Stattdessen halten sich unsere Spieler für das Mannschaftsfoto die Münder zu. Viele finden, das sei eine gute Geste gewesen; international gibt es für die Aktion mehr Anerkennung als Kritik. Ich denke dagegen: Das ist ein Eigentor, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat. Wäre es nicht besser, den Mund aufzumachen statt darauf hinzuweisen, dass man sich den Mund hat verbieten lassen? Dass man sich hat erpressen lassen?

Fabian Köster, einer der jungen Comedians aus der ZDF-Heute-Show, postete neulich bei Facebook: „Lustig, wenn man die Buchstaben von Fifa anders ordnet und nur ein paar hinzufügt und weglässt, ergibt das: menschenverachtender korrupter Drecksladen.“ Das Lachen blieb mir augenblicklich im Halse stecken. Kösters Worte sind drastisch, sehr drastisch sogar, aber leider Buchstabe für Buchstabe zutreffend. Vielleicht sollte man die Fifa umbenennen. MkD wäre doch auch eine schöne Abkürzung.

Der schlotternde Schlotterbeck

Mein Sohn und ich kommen zu Hause an und sehen: Chancen über Chancen für Deutschland. Und dann sehen wir auch: Lücken in der Abwehr. FUNKE-Sportchef Peter Müller formuliert es in seinem Kommentar später wunderbar polemisch: „Diese Abwehr kommt sogar in einer Pfütze ins Schwimmen.“ Und so kommt es, wie es kommen muss.

Zack, 1:1! Die Gummibärchentüte, unverzichtbare Nervennahrung in solchen Situationen, fliegt quer durchs Wohnzimmer. Etwas später läuft Takuma Asano vom VfL Bochum plötzlich auf Manuel Neuer zu. Nico Schlotterbeck läuft mit und gewährt so eine Art Begleitschutz, anders kann man das nicht nennen. Kein Eingreifen, kein Abwehren, gar nichts. Mein Sohn sucht meine Hand. Rumms, 2:1! Unser kollektiver Aufschrei hinterlässt in meinen Ohren ein minutenlanges helles Pfeifen. „Der blöde Schlotterer!“, kreischt mein total empörter Sohnemann. No jokes with names? Von wegen: Nomen est omen!

80 Millionen Bundestrainer

Wir Experten sind uns einig: Flick hätte lieber den erfahrenen Hummels mitnehmen sollen, der ist wenigstens kein schlotternder Angsthase. Mein Sohn und ich, zwei von 80 Millionen Bundestrainern, die vom Sofa aus alles besser wissen als die einsamen Jogis oder Hansis am Spielfeldrand. Wie bei jeder WM.

Wie bei jeder WM?

Nicht einmal zehn Millionen Menschen haben das Spiel gegen Japan gesehen, wie sich später herausstellt. Eine Tour unserer WAZ-Reporterinnen und -Reporter durch die Kneipen des sonst so fußballverrückten Ruhrgebiets bestätigt das Bild.

Leere Kneipen im Pott

Im „Zum Hocker“ in Duisburg-Bissingheim sitzen 17 Fans, wo sonst zu WM-Zeiten weit mehr als 200 hocken. In Mülheim-Eppinghofen weisen immerhin zwei große Fahnen vor der Kneipe „Zum schrägen Eck“ darauf hin, dass gerade ein internationales Fußball-Turnier stattfindet. Ganze 16 Fans zählt der Reporter, ein Mann immerhin steckt in einem DFB-Trikot. In der Bottroper Rathausschänke sitzen 12 Gäste. Und in der „Alten Post“ in Witten starren 20 Menschen auf ein Gerät, wo der Wirt sonst fünf Großbildschirme aufgestellt hat. Kollektive Nicht-Beachtung.

Später am Abend, die Spuren der Verwüstung in unserem Wohnzimmer sind noch sichtbar, telefoniere ich mit meinem alten Freund Jan. „Hast Du das gesehen?“, frage ich ihn erwartungsvoll. „Was denn?“, fragt er zurück. Er weiß nicht, wovon ich spreche. Am nächsten Tag ein ähnliches Bild im Kollegenkreis. „Boah, der Schlotterbeck“, versuche ich eine Konversation zu starten in der Hoffnung, mein Leid teilen zu können. Geteiltes Leid ist … – Sie wissen schon. Leere Augen schauen mich an. Ich denke mir: „Ihr Glücklichen!“ Wer diese WM boykottiert, macht es sich schön leicht.

Tschüss mit -1 Punkten

Am Sonntag folgt das nächste Deutschland-Spiel. Diesmal geht es gegen die vor Selbstbewusstein kaum noch lauffähigen Sieben-zu-null-Spanier; es droht das vorzeitige sportliche WM-Aus, schon wieder. Ob sich Manuel Neuer ein Beispiel an Bundesinnenministerin Faeser nehmen und nun doch noch mit der One-Love-Binde auflaufen wird? Das wäre doch ein tröstender Spaß, wenn der MkD (siehe oben!) Deutschland einen Punkt abzieht und eine Mannschaft in der Tabelle erstmals in der Fußballgeschichte mit -1 Punkten aufgeführt würde. 0 minus 1 gleich -1. Das lernen sie schon in der Grundschule. Ein solcher politischer Triumph könnte das sportliche Desaster mehr als aufwiegen.

Aber wie heißt es so schön: Könnte, könnte, Fahrradkette! Es schaut ja ohnehin kaum einer zu. Und wir haben zu Hause zum Glück wieder alle Tassen und dazu ein paar extra große Tüten Gummibärchen im Schrank. Nur zur Sicherheit.

Auf bald.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.

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