Essen. Es wäre echt super, wenn sich die Oberlehrer der Nation, die uns jeden Spaß verbieten wollen, mal zurückhalten. Sie nerven schon genug.

Offenbar gesellt sich in diesen Tagen zu den zehn Geboten, von denen einige ohnehin nur mit Mühe zu befolgen sind, noch ein elftes hinzu: Du sollst Dir die Fußball-WM nicht anschauen! Angesichts der Menschenrechtsverletzungen in Katar müsse der Fernseher aus bleiben, fordern Befürworter eines Fernseh-Boykotts. Manche entwickeln dabei einen geradezu missionarischen Eifer. Man weiß inzwischen schon gar nicht mehr, ob die allgemeine Lustlosigkeit auf diese „WM der Schande“ – und das ist sie ja zweifellos – mitten im Winter dazu führt, dass man nirgendwo auch nur ein paar Fähnchen als Fensterschmuck entdecken kann, oder ob sich diejenigen Fußball-Fans, die sich trotz allem auf die Spiele freuen, nur nicht trauen, diese Freude auch zu zeigen – weil das ja unanständig wäre. Was für ein Irrsinn.

Mich erinnert das an jene Kampf-Vegetarier, denen ihr Vegetarier-Dasein nicht genug ist. Solche Radikalen (und ich meine jetzt nicht alle Vegetarier, sondern nur die Missionare unter ihnen) müssen uns Fleischessern unbedingt jedes Steak madig machen. Manchmal habe ich Sorge, sie könnten mir die saftige Bratwurst regelrecht aus dem Mund ziehen, bevor ich herzhaft zubeißen kann, um mir anschließend ersatzweise eine schrumpelige Bio-Karotte in die Hand zu drücken. „Ist auch lecker!“ „Neeeeeeeee!“

Hass gegen Sportkneipen im Ruhrgebiet

Zurück zum Thema. Es geht hier nicht darum, die Zustände in Katar zu verharmlosen. Diese sind ganz und gar unerträglich. Und es ist das gute Recht jedes Einzelnen, daraus für sich die Konsequenz zu ziehen, bei dieser WM als Zuschauer nicht mitmachen zu wollen. Aber muss man deswegen anderen Menschen ein schlechtes Gewissen machen, die sich auf ein wenig Ablenkung durch den Fußball freuen, zumal in einer fürwahr dunklen Zeit, in der wir alle ein wenig Ablenkung gut gebrauchen können? Betreiber von Sportkneipen im Ruhrgebiet, die die Spiele zeigen wollen, sprechen inzwischen von „richtigem Hass“, der ihnen entgegenschlage. „Schämt Euch!“, bellt es einigen Kneipiers in den (a)sozialen Netzwerken entgegen.

Offenbar gehen einige Obermoralisten beim sorgfältigen Ausräumen ihrer Tassen aus dem Schrank in die (Achtung, Metapher-Alarm!) Verlängerung.

Hinschauen, nicht wegschauen!

Die Frage ist doch: Was ändert sich in Katar oder bei der Fifa durch das Wegschauen? Gar nichts ändert sich dadurch. Hinschauen ist viel wirkungsvoller. Natürlich darf man sich keine Wunder erhoffen. Diese sind ja auch nach den Fußball-Weltmeisterschaften in Chile, Argentinien und Russland oder nach den Olympischen Spielen in Peking ausgeblieben. Doch als ZDF-Reporter Jochen Breyer vor einigen Tagen das grelle Scheinwerferlicht auf den WM-Botschafter Khalid Salman richtete und dieser Homosexualität im Interview prompt als „geistigen Schaden“ bezeichnete, da hatte sich das Regime am Golf bis zur Kenntlichkeit entblößt. So etwas wirkt nach. Ich fand das großartig.

Was wir vermeiden sollten, ist Heuchelei. Wenn sich Katars Außenminister über die Doppelmoral von uns Deutschen beschwert, die wir einerseits harsche Kritik an der WM üben, andererseits aber gerne mehr Erdgas aus dem Emirat beziehen wollen, dann ist das Bitterste an dieser Aussage, dass sie zutreffend ist. Man möchte vor Scham im Erdboden versinken.

Nicht die Fans haben versagt

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, heißt es bei Bert Brecht. Vielleicht sollte man den berühmten Spruch anpassen: „Erst kommt das Tanken und Heizen ...“

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Es war ein schwerer Fehler, die WM an Katar zu vergeben. Aber das war nicht der Fehler der Fußballfans. Verantwortlich dafür ist der korrupte, demokratisch nicht legitimierte Fußball-Weltverband. Wir sollten uns dagegen wehren, wenn die Verantwortung nun verindividualisiert werden soll.

Schlechte Laune als Programm

Das Muster ist ja altbekannt: Wenn die Politik versagt, ruft sie schnell die Bürger dazu auf, das durch eigenes Verhalten auszugleichen. Nehmen wir die Umwelt- und Klimapolitik. Ob es den Klimawandel sehr beeindruckt, wenn wir Strohhalme aus Pappe statt Plastik benutzen, die für einen ausgeprägt pelzigen Trink-„Genuss“ sorgen?

Ich schaue die WM ohne Gewissensbisse, damit das mal klar ist, und grille und esse dazu Bratwürste. So! Die schlechte Laune kommt schon von allein, wenn die deutsche Mannschaft spielt, wie ich es – trotz anderslautender Vorhersagen unseres sehr erfahrenen Sport-Chefs – befürchte. Dazu brauche ich jetzt nicht irgendwelche moralaposteligen Stimmungskiller-Kommandos.

Auf bald.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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