Witten. Der Tag der Deutschen Einheit ist für Siegfried Boldt nach wie vor ein besonderer Tag. Dann erinnert er sich wieder an seine Flucht aus der DDR.

Der „Tag der Deutschen Einheit“ ist für viele nicht mehr als ein willkommener freier Tag. Für Siegfried Boldt (71) aus Herbede ist er viel mehr. Jedes Jahr muss er daran denken, wie er damals aus der DDR floh - und beim ersten Mal verhaftet wurde.

35 Jahre ist das nun her. Einen Tag vor dem 3. Oktober 1989 wollte der gebürtige Mecklenburger „rübermachen“. Raus aus der DDR, die ihm das Philosophiestudium verweigerte, „weil meine gesellschaftspolitische Einstellung nicht mit dem sozialistischen Weltbild übereinstimmte“.

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Damals, wenige Wochen vor dem Fall der Mauer, bröckelte der DDR-Staat bereits. Prag wurde für viele zum neuen Tor in die Freiheit. Doch die (west-) deutsche Botschaft hat er nicht wie erhofft erreicht. Boldt lebte in Dresden und wollte mit der Bahn reisen. „Dann wurde die Grenze nach Tschechien zugemacht und es durften keine Züge mehr fahren.“ Also versuchte es der 36-Jährige mit seinem kleine Trabbi. Nahe Pirna setzte er seine Flucht über die grüne Grenze zu Fuß fort, in der Hand nur eine Reisetasche.

Wittener wird von tschechischen Grenzbeamten gestoppt

„Erst hab ich mich verlaufen, dann aber oben von der Straße gesehen, dass ich in Tschechien bin“, erinnert sich Boldt. „Ich dachte, notfalls laufe ich die 100 Kilometer bis Prag.“ Doch so weit kam er nicht. „Auf einmal hörte ich, wie hinter mir eine Kalaschnikow entsichert und durchgeladen wurde.“ „Stoi!“ Stehen bleiben! Grenzbeamten stoppten den gelernten Schäfer und Agrartechniker und setzten ihn in einen Zug zurück nach Pirna, Ostdeutschland. „Dort landete ich in einer Zelle mit zehn anderen.“

Schließlich kam er wieder nach Dresden, wo er auf dem Polizeipräsidium in der „Schiedsgasse“ verhört, dann aber wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. „In der Nacht vorher hatte es schon große Unruhen gegeben“, erinnert sich Boldt. Für den das viel wichtigere Datum der 9. November ist, der Tag des Mauerfalls. Gesamthistorisch, aber auch ganz persönlich.

Siegfried Boldt, DDR-Flüchtling aus Witten
Siegfried Boldt, DDR-Flüchtling aus Witten, Anfang der Neunziger vor der Kulisse seiner alten Heimat Dresden (in der Mitte die Frauenkirche). © Ilona Boldt | Ilona Boldt

Denn am 8. November machte er sich wieder auf den Weg nach Prag, kam dort auch an, gelangte aber gar nicht mehr zur Botschaft. „Wir wurden gleich am Bahnhof in einen Zug in den Westen gesetzt, Ziel Marktredwitz im Fichtelgebirge. Über Nacht fuhren er und viele andere unverhofft der Freiheit entgegen. „Ich hatte ein kleines Kofferradio dabei und hörte in den Nachrichten, dass die Grenze auf ist.“ Daraufhin strömten Menschenmassen zu ihm ins Abteil. Ist das wirklich wahr? Der Rest ist Geschichte.

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Als der Zug mit den ostdeutschen Flüchtlingen im Westen ankam, wurden sie von den Einwohnern gefeiert. „Ich habe geheult vor Freude“, sagt Siegried Boldt. Noch heute „kriegt er eine Gänsehaut, wenn ich das erzähle“. Die Mauer war auf, „es war ein Traum“.

Über das Auffanglager Unna-Massen, wo er zufällig den Sohn von „Holzland Wischmann“ aus Herbede kennenlernte, landete Boldt schließlich in Witten. Es sollte seine neue Heimat werden. „Der Vater hat mich sofort als Lagermeister eingestellt.“ Später folgten 26 Jahre bei der Ruhrtaler Gesenkschmiede. Der geschiedene Dresdner, seit langem Vorsitzender des Sozialverbandes VdK in Witten, wurde ein echter Herbeder.

Der heute noch gern in seine Heimat reist, dort leben „noch meine Kinder und Enkel“. Obwohl ihm das DDR-Regime verhasst war, steht der 71-jährige voll und ganz zu seiner ostdeutschen Vergangenheit. „Ich bin stolz, ein Ossi zu sein.“