Witten. Krankenschwester Ost zieht es zu Krankenschwester West: Lange trennte sie die Mauer, dann kam die Wende – und die Wiedervereinigung in Witten.

Zum 61. Mal jährt sich am 13. August der Bau der Berliner Mauer. Mit ihr ist ein ganz besonderes Schicksal zweier Frauen verbunden, das ein glückliches Ende in Witten gefunden hat.

Die eine ist 72 und stammt aus Brandenburg, östlich von Berlin. Genauer gesagt kommt Ingeborg Kehring aus Altlandsberg, einer Kleinstadt im sogenannten „engeren Verflechtungsraum“ der heutigen Bundeshauptstadt. Damals grenzte ihre Heimatstadt an den sowjetischen Sektor Berlins.

Die junge Ingeborg war schon immer gegen den Sozialismus. „Der Bonze hat sein Parteizeichen nicht abgenommen und ich habe mein Kreuz von der jungen Gemeinde weitergetragen,“ erklärt die Protestantin, warum sie nicht zu den Jungen Pionieren kam. „Allzeit bereit wollte ich schon sein, aber nur für das Christentum.“

So entschied sie sich für eine kirchliche Ausbildung, die in der DDR nicht anerkannt wurde, schlechter bezahlt war und keine Punkte in die Rentenkasse brachte. Nach einer Lehre als Buchbinderin wurde sie konsequenter Weise „Hauswirtschaftsdiakonin“, mit dem Ziel, Diakonisse zu werden. Um Mitglied in der Schwesternschaft des Königin-Elisabeth-Hospitals (KEH) in Berlin-Lichtenberg zu werden, musste sie zunächst aber für fünf Jahre Probeschwester sein.

Gruppenfoto mit Berlinern und Wittenern 1984 vor dem Königin-Elisabeth-Hospital in Ost-Berlin: In der Mitte sieht man (mit dem roten Mantel) Ingeborg Kehring. Dabei waren auch die Wittener Diakonin Ulla Sauer, Prof. Dr. Henning Gallenkamp sowie Diakon Dieter Pfarre (rechts außen).
Gruppenfoto mit Berlinern und Wittenern 1984 vor dem Königin-Elisabeth-Hospital in Ost-Berlin: In der Mitte sieht man (mit dem roten Mantel) Ingeborg Kehring. Dabei waren auch die Wittener Diakonin Ulla Sauer, Prof. Dr. Henning Gallenkamp sowie Diakon Dieter Pfarre (rechts außen). © Michael Winkler

Das war 1969. Sie wurde im einzigen evangelischen Krankenhaus von Berlin-Ost angestellt. „Ich arbeitete im Gästebetrieb, in der Küche und in der Wäscherei. In der der Krankenpflegeschule habe ich Hauswirtschaftslehre gegeben.“ Nach der Probezeit wurde sie dann als Diakonische Schwester eingesegnet. Sie leitete den Tagungsbetrieb der Klinik.

Unter den Gästen waren neben Ärzten hauptsächlich Theologen und Schwestern des Kaiserswerther Verbandes, dem Dachverband der (gesamt-)deutschen Diakonissenhäuser. Die Nähe zu Westberlin war irgendwie interessant und informativ zugleich und es gab auch immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das Krankenhaus nutzten, um per Ausreiseantrag die DDR schneller verlassen zu können.

Doch Schwester Ingeborg blieb. 43 Jahre an der Herzbergstraße. Ihr war die Schwesterngemeinschaft wichtig, sie hatte es ja gelobt. Immerhin: Sie bekam dadurch sogar einen dienstlichen Ausweis – den blauen Reisepass, der sie berechtigte, einmal im Jahr zu Besuchen in die „BRD“ zu reisen. Natürlich nur zu offiziellen Treffen der Evangelischen Kirche.

Auf diesem Weg kam sie 1984 erstmals in den Westen und nach Witten. Denn das Wittener und das Ostberliner Mutterhaus waren sogenannte Partnermutterhäuser und seit 1947 eng miteinander verbandelt. War es zunächst eine Einbahnstraße, dass nur Wittener Schwestern aus dem damaligen Diakonissenhaus an der Pferdebachstraße nach Berlin reisten, kamen aufgrund der geänderten Besuchsregelungen in den 80ern auch „Ossis“ in die Ruhrstadt.

Die damalige Wittener Oberin Christel Prein wollte die Gruppen außerdem mit „zivilen“ Beschäftigten erweitern, so dass neben Schwestern auch Ärzte, Handwerker, Küchenmitarbeiter und Sozialarbeiter hin und her reisten, um die diakonischen Einrichtungen kennenzulernen.

Die Stempel sind noch gut im alten DDR-Reisepass von Ingeborg Kehring zu sehen.
Die Stempel sind noch gut im alten DDR-Reisepass von Ingeborg Kehring zu sehen. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Bei einer solchen Begegnungsfahrt lernte Ingeborg Kehring ihre jetzige Freundin Jutta (88) aus Witten kennen. Nach dem Mauerfall und der neuen Reisefreiheit konnten sich die beiden Diakonischen Schwestern nun öfter problemlos treffen.

Nach ihrem Renteneintritt im Jahr 2010 zog Ingeborg zunächst nach Heringsdorf auf Usedom, ihre Lieblingsinsel. 2013 flog sie sogar zu einem karitativen Einsatz ins afrikanische Lambarene: „Die zehn Tage dort waren anstrengend und erschreckend.“ Zurück in Deutschland, sagte Jutta zu ihrer Freundin: „Komm doch nach Witten.“ Gesagt, getan. 2016 zog diese an die Pferdebachstraße. Immerhin war Ingeborg schon 2004 der Wittener Schwesternschaft beigetreten und kannte das hiesige Gemeinschaftsleben.

Und so wohnen die beiden Seniorinnen nun ganz nah auf dem Diakoniegelände beieinander – die eine im Feierabendhaus, die andere im Appartementhaus. Sie sehen sich täglich. „Seit 2014 fühlen wir uns wie eine eingetragene Partnerschaft und natürlich kümmere ich mich jeden Tag um Jutta“, sagt Ingeborg Kehring. Sie fühle sich in der Schwesternschaft mit ihren Angeboten wohl. Die Stadt Witten hat es ihr allerdings nicht so angetan. „Vielleicht gehe ich eines Tages wieder zurück nach Usedom.“