Witten. Sprunghaft sind im Vorjahr die Fälle häuslicher Gewalt in Witten und im Kreis angestiegen. Auch im ersten Halbjahr 2023 sieht es nicht gut aus.
Das Bundeskriminalamt (BKA) hat in einem aktuellen Lagebild einen deutlichen Anstieg häuslicher Gewalt verzeichnet. Nicht besser sieht es vor Ort aus. 2022 gab es mit 173 offiziell dokumentierten Fällen so viele wie schon lange nicht mehr in Witten.
Nicht nur die Zahl der Übergriffe ist deutlich gestiegen. „Auch die Heftigkeit nimmt zu“, sagt Andrea Stolte (60), Leiterin der Frauenberatungsstelle EN. Im ersten Halbjahr 2023 gab es kreisweit (mit Witten) schon 225 Fälle, 30 Prozent mehr als vor einem Jahr. 2022 wurden insgesamt 346 Delikte im Kreis gezählt. Die Taten reichen allgemein von der berühmten Ohrfeige über Schläge bis zu Würgen und Vergewaltigung oder im schlimmsten Falle Mord.
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Auch Corona dürfte ein Grund sein, wenn auch nicht der einzige, warum die Fallzahlen allein in Witten im letzten Jahr auf 173 hochschnellten, von zuvor 93 (2021), 96 (2020) und 90 (2019). „Die Leute konnten sich nicht mehr aus dem Weg gehen“, sagt Stolte. Die Zahlen stiegen aber seit Jahren, so die Expertinnen.
Hier finden Frauen Hilfe
Hier finden Frauen, die in 85 Prozent aller Fälle Opfer häuslicher Gewalt sind, Hilfe sowohl in Witten als auch im EN-Kreis: EN-Frauenberatung, Tel. 02302/52596, www.gesine-intervention.de; Frauenhaus: Tel. 02339/6292. Wer erfahren will, ob ein Platz im Frauenhaus frei ist, guckt hier: www.frauen-info-netz.de. Die Kreispolizeibehörde Bochum verweist auf die Seite polizeiberatung.de. Wenn die betroffenen Frauen zustimmen, gibt die Polizei deren Telefonnummer an die EN-Frauenberatung weiter. So können Frauen in Not direkt angerufen werden und müssen sich nicht erst selbst um einen Kontakt zur Beratungsstelle bemühen, wie deren Leiterin betont.
Entsprechend groß ist der Ansturm auf das einzige Frauenhaus im EN-Kreis. Es verfügt lediglich über 25 Plätze und nimmt jährlich rund 50 Betroffene auf. „Wir bräuchten viel mehr Plätze“, sagt Leiterin und Mitbegründerin Marion Steffens (60). „In dem Moment, wo eine Frau auszieht, ist der Raum in Minuten wieder belegt.“ Im Internet kann man sehen, ob eine Ampel auf Grün (frei) oder Rot (für belegt) steht.
Frauenhaus im EN-Kreis muss viele Hilfesuchende abweisen
Nach diesem System können landesweit Plätze vermittelt werden. Das kann bedeuten, dass „eine Frau aus Ennepetal nur in Minden oder Rheinland-Pfalz unterkommen kann“, so Steffens. Für das Frauenhaus des EN-Kreises gilt: „Wir müssen wesentlich mehr Frauen abweisen als wir aufnehmen können.“
Wenn alles voll ist, wird eine Zwischenlösung gesucht. um Frauen in Not in Sicherheit zu bringen. Gibt es vielleicht Freundinnen, bei denen sie Zuflucht finden könnten? Denn auch wenn sie ihrer Misshandlungsbeziehung entkommen sind, heißt das noch lange nicht, dass sie nun vor dem prügelnden Partner geschützt sind. Steffens: „Die Täter versuchen, den Frauen weiterhin Gewalt anzutun.“
Bewohnerinnen im Frauenhaus werden immer jünger
Im Schnitt sind die Bewohnerinnen im Frauenhaus zwischen 20 und 40 Jahre alt, sie werden aber immer jünger. Und es gebe viel mehr sexualisierte Übergriffe – was bei K.o.-Tropfen auf einer Party anfangen kann. „Die Formen der Gewalt werden immer vielfältiger“, sagt Steffens, „und immer digitaler“. So würden Frauen beispielsweise mit intimen Fotos erpresst, die der Ex im Netz zu veröffentlichen drohe, wenn sie nicht zurückkäme. Die Frauenhausleiterin spricht von „seelischer Folter und totaler Erniedrigung“.
Es kann lange dauern, bis sich die Frauen nach ihrer Flucht überhaupt wieder sicher fühlen und vielleicht eine eigene Wohnung suchen können. Auch das ist ein Grund, warum die Plätze im Frauenhaus oft lange belegt sind. Steffens: „Wir entlassen ja niemanden in die Obdachlosigkeit.“
„Es verprügelt sie ja der Mensch, den sie eigentlich lieben“
Und was sagt die Polizei? „Jeder Fall von häuslicher Gewalt ist einer zu viel“, erklärt Sprecher Marco Bischoff (46). Er warnt mögliche Täter: „Wir setzen unsere Maßnahmen rigoros durch.“ Dazu gehört etwa ein Betretungsverbot. An mögliche Zeugen appelliert er: „Wenn Sie etwas beobachten, rufen sie die 110.“
Bleibt die vielleicht oft von Außenstehenden gestellte Frage, warum die Frauen nicht gleich nach der ersten Gewaltausübung des Partners das Weite suchen. Ein Grund von vielen kann sein: Häufig entschuldige sich der Mann anfangs noch und die Frauen hofften, dass er sich ändert, sagt Frauenhaus-Leiterin Marion Steffens. „Es verprügelt sie ja der Mensch, den sie eigentlich lieben.“