Oberhausen. Die Stimmung auf dem Arbeitsmarkt verdüstert sich, die Zahlen sind mies - und das liegt auch am Verhalten von Arbeitslosen, Eltern, Firmenchefs.

Das vergangene Jahr 2024 war so etwas wie das Jahr der Offenbarung für Oberhausen: Die strukturellen Probleme des hiesigen Wirtschaftslebens und Arbeitsmarktes entpuppen sich als so tief, dass sie durch eine gute Konjunkturlage und Schönfärberei in Reden nicht mehr zu verdecken sind.

Dabei ist ein Multi-Versagen der Akteure erkennbar: Bei den örtlichen Unternehmen, bei Jugendlichen und ihren Eltern, bei Schule-/Beruf-Übergangsberatern, bei Langzeitarbeitslosen, bei jungen Arbeitslosen, die ihr Leben lang noch nie gearbeitet haben, aber munter Bürgergeld vom Jobcenter kassieren.

„Oberhausen hat viele Baustellen“, sagt der langjährige Chef der Oberhausener Arbeitsagentur, Jürgen Koch, beim Besuch der Redaktion mit seiner Kollegin Valeska Hurraß, der Geschäftsführerin des Jobcenters. Und er meint damit nicht die Baustellen, die den Autofahrern den Weg durchs Stadtgebiet madig machen, sondern die Baustellen, die jungen Menschen den Weg in eine gute Zukunft blockieren. Dringend müssten jetzt alle Akteure die Ärmel hochkrempeln, um einer Verschlimmerung der Arbeitsmarktlage entgegenzuwirken.

Valeska Hurraß, Geschäftsführerin des Jobcenters Oberhausen, und Jürgen Koch,  Vorsitzender der Geschäftsführung der Arbeitsagentur Oberhausen, lenken bei ihrer Arbeitsmarktbilanz für das Jahr 2024 den Blick auf die strukturellen Schwächen der Wirtschaft und der Arbeitswelt im Stadtgebiet.
Valeska Hurraß, Geschäftsführerin des Jobcenters Oberhausen, und Jürgen Koch, Vorsitzender der Geschäftsführung der Arbeitsagentur Oberhausen, lenken bei ihrer Arbeitsmarktbilanz für das Jahr 2024 den Blick auf die strukturellen Schwächen der Wirtschaft und der Arbeitswelt im Stadtgebiet. © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

Folgende Fakten treiben den Arbeitsmarkt-Experten die Sorgenfalten auf die Stirn:

Erster Punkt: Erhebliche Struktur-Nachteile für Oberhausen

Erstens: Trotz eines über zehn Jahre dauernden Wirtschaftsaufschwunges von 2009 bis 2022 mit immerhin einer guten Zahl an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten von 70.000 hat es Oberhausen nicht geschafft, die im Vergleich zu Nachbarstädten der Region vorhandenen strukturellen Nachteile zu beheben. Da hilft auch eine Aufholjagd bei den verfügbaren Einkommen und der Kaufkraft seit 2013 kaum. So erwirtschaftet der Oberhausener im Schnitt mit 30.400 Euro pro Kopf fast 10.000 Euro weniger an Bruttosozialprodukt als der Mülheimer, sogar fast 20.000 weniger als der Essener. Das Arbeitsentgelt liegt im Schnit monatlich mit knapp 3700 Euro brutto um 500 Euro niedriger als in Mülheim und 400 Euro weniger als in Essen. Der Oberhausener kann auch deshalb 4000 Euro weniger im Jahr ausgeben als der Mülheimer. Und im Gegensatz zu ganz NRW und zu Nachbarstädten ist die Bevölkerungszahl in den vergangenen 20 Jahren trotz Zuwanderung gesunken - um 3,6 Prozent.

Zweiter Punkt: Arbeitslosenquote in Oberhausen steigt weiter

Zweitens: „Eine Arbeitslosenquote von unter zehn Prozent bleibt erst einmal für längere Zeit ein Traum“, prognostiziert Koch düster. „In diesem Jahr werden wir wohl im Schnitt eine Arbeitslosenquote von über 11 Prozent erleben.“ 2024 lag sie nur äußerst knapp darunter: 10,9 Prozent im Jahresschnitt. Bundesweit betrug die Arbeitslosenquote 2024 exakt 6,0 Prozent, in NRW 7,5 Prozent.

Dritter Punkt: Oberhausener Branchenmix mit hohem Risiko

Drittens: Die Wirtschaftsstruktur in Oberhausen mit guten Arbeitsplätzen ist zwar durchaus breit gestreut, birgt jedoch ein erhebliches Risiko: Fast 15 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten arbeiten im Handel (10.300) - und „diese Branche wird durch den zunehmenden Online-Handel in den nächsten Jahren weiter unter Druck stehen“ (Koch). Das Risiko von Arbeitsplatz-Verlusten hier ist groß: „Es wird in Zukunft hier eher weniger Beschäftigung geben als mehr.“

Der Oberhausener Arbeitsagentur-Chef Jürgen Koch: „Der Traum von einer Arbeitslosenquote von unter zehn Prozent ist erst einmal geplatzt.“
Der Oberhausener Arbeitsagentur-Chef Jürgen Koch: „Der Traum von einer Arbeitslosenquote von unter zehn Prozent ist erst einmal geplatzt.“ © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

Zu schaffen macht zusätzlich die derzeitige Strukturschwäche der Industrie, für die noch 4500 Oberhausener arbeiten (6,5 Prozent). Jeder dritte Beschäftigte arbeitet nur in Teilzeit - mit entsprechend weniger Lohn. Oberhausen ist hier trauriger Spitzenreiter der Region.

Vierter Punkt: Über 57 Prozent der Arbeitslosen nur auf Helfer-Niveau qualifiziert

Viertens: Auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich kaum Bewegung. Die Unternehmen halten noch an Arbeitskräften fest, suchen aber immer weniger welche - und wenn, dann sehr gut qualifizierte. Die Zahl der neuen offenen Stellen liegt mit gut 3600 zwar höher als 2023, aber im 15-Jahres-Vergleich auf dem zweitniedrigsten Niveau. Jobs für einfache Tätigkeiten (Helfer-Stellen) sind immer weniger im Angebot. Ergebnis: Arbeitslosen fällt es immer schwerer, in Oberhausen Arbeit zu finden:

Über 12.300 Bürger suchen einen Job. Davon sind bereits 5900 Menschen länger als ein Jahr arbeitslos - über 300 mehr als vor zwei Jahren. Über 70 Prozent von ihnen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Von allen Arbeitslosen erfüllen über 57 Prozent (knapp 7000) gerade mal die Anforderungen an Helfern. 23 Millionen Euro investierte das Jobcenter im Jahr 2024 allein in Oberhausen in die Weiterbildung und in die Berufsintegration der Arbeitslosen - „wir geben alle Mittel zu hundert Prozent aus, sonst wäre die Situation schlimmer“, meint Jobcenter-Leiterin Valeska Hurraß.

Fünfter Punkt: Oberhausener Betriebe bilden viel zu wenige Jugendliche aus

Fünftens: Die Oberhausener Betriebe stellen viel zu wenige Lehrstellen und Praktika bereit - trotz allen Wehklagens über fehlende Fachkräfte. Nur jede fünfte Firma bildet aus. Auf einen jungen Bewerber kommen nur 0,8 Lehrstellen vor Ort. Über 50 Prozent der Azubis müssen in andere Städte zu ihrer Lehrstelle pendeln, weil Oberhausen an Zahl und breitem Spektrum der Lehrstellen missen lässt.

Valeska Hurraß, Geschäftsführerin des Jobcenters Oberhausen: „Wir geben alle Mittel zu hundert Prozent aus, sonst wäre die Situation schlimmer.“
Valeska Hurraß, Geschäftsführerin des Jobcenters Oberhausen: „Wir geben alle Mittel zu hundert Prozent aus, sonst wäre die Situation schlimmer.“ © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

Ein Drittel aller jungen Leute bricht die Lehrstelle ab, im Handwerk sogar fast 40 Prozent. Koch sieht hier zwei Gründe: „Den Jugendlichen fehlt es an Orientierung und Praktikumserfahrung in Betrieben. Sie werden in den Schulen und Betrieben zu wenig an die Hand genommen, sie werden nicht gut genug und kontinuierlich beraten. Zudem mangelt es gerade in kleinen Firmen an Fingerspitzengefühl: Mit einem Handy-Verbot oder banalen Tätigkeiten kann man den jungen Leuten nicht mehr kommen.“

Sechster Punkt: Fehlender Einsatz von arbeitslosen Jugendlichen und deren Eltern

Sechstens: Die Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen steigt bedrohlich an - sie kletterte um über zehn Prozent auf 874 Arbeitslose unter 25 Jahren, zwei Drittel von ihnen erhalten Bürgergeld vom Jobcenter. Doch wenn die jungen Erwachsenen vom Jobcenter-Berater zum Gesprächstermin eingeladen werden, ignorieren dies über 50 Prozent. „Habe das vergessen, hatte was anderes vor, keine Zeit, da gibt es verschiedene Ausreden“, berichtet Hurraß. „Wir müssen neue Wege gehen, um an diese Jugendlichen heranzukommen, die uns sonst durchrutschen.“ Das seien sonst Langzeitarbeitslose von morgen.

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Eine echte Handhabe, etwa durch Streichung von Geldern, haben die Jobcenter nicht mehr, sie wären aber auch keine wirkliche Hilfe zur Umkehr. „Diese Jugendlichen haben meist keine Eltern, die berufstätig und damit Vorbilder sind. Oder die sie motivieren, endlich zu handeln.“ Die Verhinderung von Bürgergeld-Karrieren müsse oberstes Ziel der nächsten Zeit sein. Deshalb soll nun das Jugendbündnis von Stadt, Pädagogen und Arbeitsverwaltung aktiviert werden.

Fazit: Es muss gehandelt werden

Dass es keine einfachen Rezepte gibt, die Multi-Problemlage zu lösen, wissen die Arbeitsmarktfachleute. Doch allen Beteiligten sei nach diesem Jahr klar: „Wir können das nicht so einfach weiterlaufen lassen.“ Den wertenden Blick in die Bilanz des Arbeitsmarktes 2024 sehen die Chefs der Arbeitsverwaltungen in Oberhausen deshalb auch als Weckruf an alle Verantwortlichen in Schulen, Behörden, Unternehmen und Wirtschaftskammern.

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