Oberhausen. Mit „Gastarbeiter“-Songs in vier Sprachen glänzt eine groß aufspielende Doyçland-Band und liefert eine alternative Geschichte der Bundesrepublik.

Der erste Schwung an Theaterfotos zur neuen Spielzeit ließ schon befürchten, das Haus am Will-Quadflieg-Platz wäre auf den „Gregorian“-Trip gekommen: Sowohl im Tanztheater für „Utopia“ als auch im Großen Haus für „Oratorium Doyçland“ blickt man zunächst etwas konsterniert auf bodenlange Gewänder und großteils verhüllte Kapuzengestalten. Die Kostümierung mag sich nicht so gleich erschließen - doch für zwei mitreißende Abende war sie jedenfalls kein Vorzeichen.

Zumal der als „Oratorium“ firmierende Liederabend, gefeiert mit stehenden Ovationen und energischen „Zugabe“-Rufen, lebte von einer ungeheuren Reibung: zwischen den mitreißend interpretierten Liedern in vier Sprachen (Türkisch, Serbisch, Griechisch und Spanisch) und den meist bitteren, oft zornig aufbegehrenden Texten. Wer als Nicht-Muttersprachler das Mitlesen der „Lyrics“ verweigerte, der dürfte einen ganz anderen Abend erlebt habe, als jene, die prompt auf die teils derben Zeilen reagierten.

Eigenlob des Benz 123: „Ich bin Perfektion. Ich bin Deutschland.“

Aber der Liederabend und seine folk-rockig aufspielende „Doyçland“-Band hatten ja einen Moderator von blechernem Charme - und das ist kein bisschen despektierlich gemeint: Denn der Mercedes-Benz Baureihe 123, passgenau vor dem eisernen Vorhang eingeparkt, ist nicht nur ein (in den Kreisen seiner einstigen Besitzer) Inbegriff von Solidität und Verlässlichkeit. Der Oldie, der von 1975 bis 1984 vom Band lief, hatte im Theater zwar keine fahrende, aber eine tragende Rolle: dank der sonoren Stimme von Sven Seeburg, des 62-jährigen gefragten Hörspielsprechers.

Keine Sorge, das wird kein „Gregorian“-Abend in Mönchskutten: Zum Schluss wechselt die „Doyçland“-Band sogar in zünftige Malocherkluft.
Keine Sorge, das wird kein „Gregorian“-Abend in Mönchskutten: Zum Schluss wechselt die „Doyçland“-Band sogar in zünftige Malocherkluft. © Theater Oberhausen | Axel J. Scherer

Die teils lyrischen Texte von Caner Akdeniz, der diese Uraufführung auch inszenierte, sprach die „Limousine“ mit gepflegter Zurückhaltung - und hatte doch prompt die ersten Sympathiepunkte gesammelt mit dem Intro: „Ich war der Wagen. Objekt der Begierde. Hoffnungsträger. Perfektion. Ich bin Deutschland.“ So startete man in eine Liedersammlung, deren Anordnung sich zu nicht weniger als einer alternativen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik von 1961 bis zu den ersten Jahren des geeinten Deutschland fügte. Allenfalls Günter Wallraffs Industriereportagen „Ganz unten“ zeichneten vor 40 Jahren ein vergleichbares Stimmungsbild - und erreichten obendrein ein deutsches Publikum, das von dieser Wirklichkeit nichts ahnte.

Die „Doyçland“-Band: Vier ideale Begleiter

„Deutschland, Deutschland, du hast mein Leben ruiniert“, singt Ronja Oppelt in „Zalim Almanya“ - und leistet nicht nur stimmlich Großartiges. Ihr Mitsänger Khalil Fahed Aassy kann sicher weit besser beurteilen, was es bedeutet, sich ein ganzes Repertorie in vier Sprachen „draufzuschaffen“ - und es so überzeugend vorzutragen. Die vier Musiker der „Doyçland“-Band waren ideale Begleiter, um das Publikum wie im Fluge mitzunehmen. Es hätte sogar funktioniert, wenn Sängerin und Sänger (wie bei den ersten Liedern) ungerührt links und rechts vom fahl schimmernden „Hauptdarsteller“ auf vier Rädern ausgeharrt hätten.

Aus der Arbeitswirklichkeit machte Sven „Benz“ Seeburg eine famose Geburts-Reminiszenz „am Fließband, im grellen Licht der Werkshallen, das auf polierten Oberflächen tanzte und die konzentrierten Gesichter der Arbeiter erhellte“. Der herbe Song dazu hieß „Guten Morgen Majestero“ und wütete: „Ich bin kaputt, verstehst du mich, du Gurke!“

Punktgenau steuert Ronja Oppelt die Lieder ins Ziel, hier illustriert mit TV-Bildern von Streikenden vor den Werkstoren.
Punktgenau steuert Ronja Oppelt die Lieder ins Ziel, hier illustriert mit TV-Bildern von Streikenden vor den Werkstoren. © Theater Oberhausen | Axel J. Scherer

Lieder, die in den 1970ern und 80ern ihr Publikum dank billig produzierter Musicassetten fanden, zeigten hier ihr langes Nachleben: Beim serbischen „Gastarbajterska“ - motzig im Ton wie urbritischer Punk - bewies der spontane Jubel im Saal: Seit dem Balkan-Festival „New Stages South East“ kann das Theater Oberhausen auf eine Fangemeinde in der ex-jugoslawischen Community setzen.

„Und wer statt Kinder Dackel dressiert / Der ist fast schon integriert.“

Cem Karaca,
aus dem Lied „Willkommen“

Das „Ankommen“ in der deutschen Gesellschaft beschrieb der verlässliche Benz als „das Gefühl nach dem TÜV: Ein bisschen Nervosität kribbelt in meinen Reifen, aber ich war immer zuversichtlich.“ Gesungen erscheint dieses „Willkommen“ allerdings gebrochen in Zynismus: „Und wer statt Kinder Dackel dressiert / Der ist fast schon integriert.“

Mit diesem einer Mehrheit hierzulande weitgehend unbekannten Oeuvre hätte sich sicher auch ein dreistündiger Abend füllen lassen. So aber touchierten Caner Akdeniz und sein famoses Team zwei Aspekte nur im Vorbeiflug: Für die italienische Migration in den ersten Jahren der Bundesrepublik (die gerade in Oberhausen eine große Rolle spielte), musste die Tonkonserve von Conny Froboess „Zwei kleine Italiener“ herhalten - noch dazu überblendet von TV-Bildern der 1990er aus Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen.

Der ikonische Mercedes der 1970er als Trauer-Altar. „Ein Happy End ist nicht mein Stil“, sagt Sven Seeburg als Stimme des Benz - und appelliert: „Wacht auf!“
Der ikonische Mercedes der 1970er als Trauer-Altar. „Ein Happy End ist nicht mein Stil“, sagt Sven Seeburg als Stimme des Benz - und appelliert: „Wacht auf!“ © Theater Oberhausen | Axel J. Scherer

„Rap wurde zum Sprachrohr einer Generation, die sich nicht länger zum Schweigen bringen ließ“, dozierte der nun mit Kerzen wie ein Altar gespickte Benz. Allerdings beließ man es bei einem Tonbeispiel von „Cartel“. Die Entwicklung zum mysogynen Gangstarap kommt in dieser freundlichen Deutung nicht zur Sprache - da müsste man an Thees Uhlmanns verweisen und seinen wunderbaren Titel: „Ich bin der Fahrer, der die Frauen nach Hip-Hop Videodrehs nach Hause fährt“.

Unendlich charmanter als derartige Genre-Clips bittet Khalil Fahed Aassy zum Tanz und dirigiert die Mitsing-Einsätze, für die weder Griechisch- noch Türkisch-Kenntnisse gefragt sind. Das Erstaunlichste dieses Abends: Selbst nach einem Dutzend zorniger Lieder schwebt das Publikum beseelt nach Hause.

„Sounds of Almanya“ auch zur Woche der Demokratie

Weitere Termine im Großen Haus folgen am Samstag, 21. September, Freitag, 27. September, und Freitag, 25. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr. Karten von 7 bis 20 Euro gibt‘s unter 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de.

Als Beitrag zur „Woche der Demokratie“ gibt‘s bereits am Freitag, 13. September, „Sounds of Almanya“. Der türkisch-deutsche Musiker Ata Canani kommt für einen musikalischen Gesprächs-Abend in die Bar. Seine bekanntesten Lieder wie „Deutsche Freunde“ sind eng mit der Migrationsgeschichte des Ruhrgebiets verknüpft. Der Eintritt ist frei.