Mülheim. Wie fühlt sich Einsamkeit für Menschen an, die versucht haben, das Gefühl zu betäuben? Zwei ehemals Drogenabhängige erzählen uns ihre Geschichte.
Das Bild der glücklichen Familie. Alle versammelt am geschmückten Tannenbaum, viele Geschenke darunter, in der Küche kocht das Abendessen. Der Geruch von Keksen. Kinderlachen. Wärme. Liebe. Für viele ist dieses Bild zur Weihnachtszeit lediglich ein Werbespot im TV. Die Realität sieht gerade für Menschen mit einer Suchterkrankung anders aus. Kein geschmückter Tannenbaum. Keine Geschenke. Keine glückliche Kindheit. Einsamkeit.
Gerade die Weihnachtszeit ist für die Klienten der Therapeutische Wohngemeinschaft (TWG) in Mülheim am Rande der Mülheimer Innenstadt oft belastend. Geprägt von Erinnerungen an schwierige Familienverhältnisse. Viele ehemalige Drogenabhängige kommen deswegen regelmäßig vorbei, unterstützen aktuelle Bewohner – auch wenn die eigene Therapie schon viele Jahre her ist. „Denn die Einsamkeit“, so Leiter Nico Worring (28), „ist für viele nach der Therapie das größte Problem. Besonders zur Weihnachtszeit.“
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Einsamkeit nach der Suchtbewältigung: Warum Gemeinschaft so wichtig ist
Nico Worring (28) ist seit vier Jahren Leiter der Einrichtung. Seine Verbindung zur Suchttherapie ist persönlich. „Zwischen zwölf und 18 habe ich ein Leben geführt, das auch hätte in eine andere Richtung rutschen können“, sagt er. Über ein Freiwilliges Soziales Jahr und ein Studium der sozialen Arbeit fand er dann seinen Weg in die Einrichtung. Heute engagiert er sich mit Leidenschaft für die Klienten, die hier eine zweite Chance bekommen. Gerade für jene mit dem Wunsch nach Stabilität und Veränderung. Therapie statt Strafe, ganz im Sinne des § 35 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG).
„Wenn man reinkommt, merkt man nicht, dass wir eine Suchteinrichtung sind. Sind wir aber.“
Die TWG legt großen Wert auf klare Regeln. Sie ist drogenfrei, bei Konsum oder Besitz erfolgt ein sofortiger Ausschluss. Ein weiterer Punkt: Handys. Gerade anfangs stehen sie den Bewohnern nur abends für ein paar Stunden zur Verfügung. „Wir haben Regelungen, die oft dazu führen, dass Klienten sich gegen uns entscheiden.“ Gerade diese seien aber wichtig, um Ablenkungen zu vermeiden. „Alte Kontakte, Videos von Drogen. Damit kann man sich gut ablenken. Rutscht wieder in eine alte Welt“, so Nico Worring. Die Einrichtung bietet Platz für 25 Klienten, die dort ein bis zwei Jahre bleiben. Die Therapie umfasst Einzel- und Gruppengespräche, Arbeitstherapie und Sport. Auch betreutes Wohnen für eine langfristige Begleitung ist möglich.
Michael G. besucht immer noch häufig die TWG in Mülheim
Michael G. kennt die Einsamkeit, seit er vier Jahre alt war. Damals starb sein Vater, und das Gefühl von Verlorenheit hat ihn sein Leben lang begleitet. „Ich war vier Stunden mit meinem toten Vater alleine. Da kam ein Gefühl von Einsamkeit hoch. Ein Brunnen, der nie wieder voll wird“, sagt er. Mit 16 Jahren kamen dann die ersten Drogen in Spiel, vor allem Amphetamine während seiner Techno-Zeit. Mit etwa 35 Jahren dann der Hochpunkt und seine erste Therapie. „Dann war es auch wieder so anderthalb, zwei Jahre gut. Bis es wieder losging“, schildert er.
„Ich war vier Stunden mit meinem toten Vater alleine. Da kam ein Gefühl von Einsamkeit hoch. Ein Brunnen, der nie wieder voll wird.“
Um der Einsamkeit zu entkommen, nahm Michael G. Drogen, stürzte sich in Ablenkung. Ein Teufelskreis. „Ich bin dann schließlich zu meiner Tante nach Mülheim gezogen und musste hier Sozialstunden leisten.“ Dabei wurde Michael G. auch auf die TWG aufmerksam. Startete dort einen erneuten Therapieprozess. Heute ist er 46 Jahre alt. Hat gelernt, mit seinen Gefühlen umzugehen. „Ich kann heute mit dem Kopf gegen Einsamkeitsgefühle ansteuern. Ich bin nicht mehr alleine.“
Die TWG Mülheim bietet einen Ort der Gemeinschaft zur Weihnachtszeit
Gerade Weihnachten war früher für ihn eine schwierige Zeit voller Stress und Einsamkeit, geprägt von negativen Erinnerungen an Familienfeiern. Dort hat er sich auch unter Menschen oft alleine gefühlt und ist in die Sucht geflüchtet. „Ein Süchtiger alleine ist immer in schlechter Gesellschaft. Gerade an solchen Tagen“, sagt er. Seit 2014 ist Michael G. jedes Weihnachten in der TWG. Statt alleine zu sein, verbringt er die Feiertage mit den anderen Bewohnern. Sie kochen zusammen, schauen Filme und verbringen Zeit miteinander. „Diese Einsamkeit kennen auch viele andere hier und zusammen steht man das dann durch“, meint er.
„Man muss nicht mehr alleine sein, die Sachen mit sich selber ausmachen. Hier fällt keiner hinten runter, jeder guckt nach jedem, wir passen aufeinander auf.“
Für den 46-Jährigen ist die Einrichtung mehr als nur ein Ort der Therapie – sie wurde zu seinem Ersatz-Zuhause. „Das ist meine Familie. So wie ein gutes Elternhaus, wo man immer wieder gerne hingeht“, so Michael G. Die Gemeinschaft ersetzt das, was er in seiner leiblichen Familie oft vermisst hat: Harmonie und Geborgenheit. Für ihn ist die TWG ein Ort, an dem er überhaupt erst ein friedliches Fest erleben kann.
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Dirk findet mit der TWG in Mülheim seinen Weg aus der Isolation
Auch Dirk kennt das Gefühl der Einsamkeit sehr gut. Geboren 1965 in Recklinghausen, wuchs er in schwierigen Verhältnissen auf. Der frühe Tod des Vaters bei einem Grubenunglück prägte seine Kindheit nachhaltig. Die Mutter, tief in Trauer, konnte kaum emotionale Stabilität bieten. Wechselnde Stiefväter prägten das Familienleben, ohne jedoch eine enge Bindung zu ihm aufzubauen. Oft war er allein, ein Kind ohne Unterstützung und soziale Einbindung.
Mit 15 Jahren begann er, Alkohol zu trinken. Es folgten Cannabis und später, während seiner Bundeswehrzeit, die ersten Berührungen mit härteren Drogen. Heroin. Mit 21 Jahren war er bereits stark abhängig. Die nächsten Jahrzehnte waren von seiner Drogensucht und dem Konsum von Diazepam geprägt. Soziale Kontakte brachen vollständig ab. Er isolierte sich, nahm nicht mehr am öffentlichen Leben teil, suchte einsame Orte auf. Nur er und die Drogen. Eine Zuflucht. „Und das war dann die Abschottung, nur in meiner Welt zu sein. Da habe ich mich gut gefühlt, wie in meiner Kindheit oder so“, sagt er.
Ein Leben zwischen Sucht und Einsamkeit: Ehemalige Klienten der TWG Mülheim berichten
Im November 2020 kam der Wendepunkt: Er erkannte, dass er seinen Leben ändern muss. „Sonst wäre ich zwei Meter tiefer gewesen“, so Dirk. Nach mehreren gescheiterten Versuchen suchte er Anfang 2021 Hilfe in der TWG. Der Einstieg fiel ihm extrem schwer. Jahrelange Isolation und ein Mangel an sozialer Kompetenz machten die Integration in die Gemeinschaft zur Herausforderung. Er musste wieder sprechen lernen, dann das Sprechen über Gefühle. „Man muss sich vorstellen, von der Pike auf, wie ein kleines Kind alles neu zu lernen“, sagt er.
„Es ist alles besser, als sich alleine zu machen.“
Das erste Gefühl, das für Dirk in der Therapie zurückkommt, ist die Einsamkeit. Er beschreibt es als etwas Ziehendes. Etwas, das ihn wieder in die Isolation zurückziehen möchte. An die einsamen Orte von damals. Die Ruhe ohne Menschen. „Und mittlerweile habe ich gelernt, so darüber zu reden, sich zu unterhalten. Egal über was. Es muss nicht unbedingt das Thema Einsamkeit sein. Einfach darüber reden, dann verfliegt das“, sagt Dirk.
Gemeinsam gegen die Einsamkeit ankämpfen: Ehemals Drogenabhängige berichten
Michael G. und Dirk kennen das Gefühl der Einsamkeit gut Sie ist beiden seit Jahren ein vertrauter Begleiter. Durch das Angebot der TWG Mülheim haben sie Wege gefunden, mit ihr gesünder umzugehen. Keine Drogen. Weniger in der Vergangenheit leben, nicht zu viel in der Zukunft. Sondern genau hier, in der Gegenwart. Sprechen. Über Gefühle reden. Reden. Dirk sagt über sich selbst, er sei ein hoffnungsvoller Mensch und auch Michael G. meint: „Kein Mensch ist ständig zufrieden. Kein Mensch hat keine Sorgen. Das gibt es nicht, aber ich bin zufrieden.“ Der Einsamkeit gemeinsam begegnen, sei der Schlüssel, dem Teufelskreis zu entkommen.
Bei Suchtproblemen gibt es zahlreiche Anlaufstellen, die Betroffene und Angehörige unterstützen. Für akute Krisen stehen regionale Notdienste oder das Sorgentelefon (unter 0800 1110111, 0800 1110222 oder 116123) zur Verfügung.
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