Mülheim. Was können Eltern ihren Kindern zur Prävention von sexualisierter Gewalt vermitteln? Sechs Experten-Tipps dazu präsentiert die Awo Mülheim.
Vielen Eltern bereiten die immer neuen Nachrichten über sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Sorgen. Sie fragen sich, wie sie ihre Kinder am besten vor Übergriffen schützen können. Antworten darauf liefert seit gut 20 Jahren die Fachberatungs- und Anlaufstelle bei sexualisierter Gewalt der Awo in Mülheim, das Team führt zum Beispiel Präventionsprojekte in Kitas und Schulen durch und veranstaltet Elternabende.
„Prävention beruht immer auf sechs Säulen: Körperbewusstsein, Intuition, Geheimnisse, Berührungen, Nein sagen und Hilfe finden“, erläutert Gruppenleiterin Nicole Fuhrmeister. „Es ist aber etwas völlig anderes, ob man den Kindern dazu nur etwas erzählt, oder ob sie selber zum Nachdenken und Nachfühlen kommen“, ergänzt ihre Kollegin Regelind Holzwarth.
Daher sind die Beiden froh, dass die Awo kurzfristig die interaktive Wanderausstellung „Echt Klasse“ der Stiftung Hänsel und Gretel und des Petze Instituts nach Mülheim holen konnte. An sechs Stationen lernen Kinder im Grundschulalter hier spielerisch die sechs Säulen kennen, immer begleitet durch das Team der Beratungsstelle. Zum Beispiel kennzeichnen sie mit Smileys, welche Berührungen sie im Alltag angenehm oder unangenehm finden, oder dürfen in einen Kasten „Nein“ schreien, so laut sie können. Doch eigentlich, so Gruppenleiterin Fuhrmeister, geht Prävention auch bei den Eltern weiter. Sechs Tipps, worauf Eltern achten können:
1. Körperteile beim Namen nennen
Das Sprechen über den Genitalbereich ist häufig schambehaftet. „Viele Familien haben dafür Kosewörter. Die darf es auch geben. Ich empfehle aber sehr, dass Kinder auf jeden Fall auch die üblichen Bezeichnungen kennen und sagen können: Das ist mein Penis oder das ist meine Scheide“, sagt Fuhrmeister.
Die Geschlechtsteile seien dann auf einer Stufe mit anderen Körperteilen wie Armen und Beinen. Das nehme die Scham und helfe den Kindern, sich auszudrücken, falls ihnen sexualisierte Gewalt widerfährt.
2. Über Gefühle reden
„Jeder sagt: Sei nicht traurig! Aber niemand würde sagen: Sei nicht fröhlich!“ Dieser unterschiedliche Umgang mit positiven und negativen Gefühlen in der Sozialisation führt laut Fuhrmeister dazu, dass negative Gefühle wie Angst oder Wut unterdrückt werden und Kinder den Eindruck haben, damit nicht offen umgehen zu dürfen. Eltern sollten deswegen vorleben, dass auch solche Empfindungen ihre Berechtigung haben. Fuhrmeisters Tipp, wie das gelingen kann: „Ganz wichtig ist, dass Eltern authentisch bleiben.“
Im klassischen Negativbeispiel merkt das Kind, dass die Eltern bedrückt sind, und fragt: „Warum seid ihr traurig?“ Doch die Eltern lächeln zurück und entgegnen: „Wir sind gar nicht traurig.“ Stattdessen sollte man lieber versuchen, kindgerecht zu beschreiben, was der Grund für die traurige Stimmung ist, erklärt Fuhrmeister: „Beim Kind bleibt sonst die Erkenntnis zurück, dass seine Wahrnehmung und die Tatsachen offenbar nicht zusammenpassen. Es lernt, dass es seinem Bauchgefühl nicht vertrauen kann.“ Solche Kinder nähmen auch im Missbrauchsfall an, ihre Wahrnehmung der Situation sei einfach nicht richtig.
3. Akzeptieren, wenn Kinder mal nicht kuscheln wollen
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Hier ist die Botschaft der Leiterin der Beratungsstelle eine ganz simple: „Auch Kinder dürfen jederzeit sagen, wenn sie nicht berührt werden wollen.“ Dabei gehe es gar nicht sofort um anzügliche oder grobe Berührungen, die unter sexualisierte Gewalt fallen. Es könne auch das alltägliche Kuscheln mit den Eltern auf dem Sofa sein. Auch hier gilt gleiches Recht für alle: Wenn Mama oder Papa lieber mal für sich sein möchten, können sie genauso sagen, dass sie gerade keine Lust aufs Kuscheln haben.
Kinder sollten sich selbst in einem sicheren Umfeld nie zu Berührungen verpflichtet fühlen, etwa nach dem Prinzip ‚Ein Küsschen fürs Geburtstagsgeschenk‘. Denn auch Täter machen häufig zunächst Geschenke, um als Gegenleistung die Gefügigkeit des Opfers einzufordern.
4. Zum „Petzen“ ermutigen
Täter von sexualisierter Gewalt bezeichnen ihre Taten gegenüber den minderjährigen Opfern gerne als „Geheimnis“, das sie miteinander teilen und das die Kinder auf keinen Fall verraten dürften. Oft drohen sie ihnen zusätzlich Konsequenzen an, damit die Kinder unter keinen Umständen als „Petze“ dastehen wollen.
Eltern können daher mit ihren Kindern über den Unterschied zwischen „guten“ und „schlechten“ Geheimnissen sprechen. Gute Geheimnisse sind solche, die niemandem schaden und die alle Mitwisser gerne für sich behalten, die also tatsächlich Spaß machen. Wenn zum Beispiel alle Freunde zusammen eine Geburtstagsüberraschung planen, ist das ein gutes Geheimnis, das man wirklich nicht verraten sollte. Sobald aber jemand zu Schaden kommt und man sich selbst nicht mehr wohl damit fühlt, das Geheimnis mit sich herumzutragen, sollte man mit jemandem darüber sprechen.
5. Nein-Sagen üben
„Das Nein-Sagen ist die wichtigste Säule der Prävention“, betont Fuhrmeister, „denn wir wissen: Wenn ein Kind Nein sagt, schrecken die Täter zurück. Kinder, die sich wehren, sind nicht die interessanten Kinder.“
Je bestimmter dieses Nein vorgebracht werde, desto besser. Kinder sollten sich trauen, laut zu werden, und wissen, wie man nicht nur verbal, sondern auch durch Körpersprache Nein sagen kann. Eine gute Übung, die Teil der „Echt Klasse“-Ausstellung ist: Vor dem Spiegel Nein zu sagen, und zwar mal nur mit der Stimme, mal mit dem Kopf, mal nur mit den Händen, dann mit den Füßen, mal mit dem Gesicht, mal nur mit den Augen und mal mit dem ganzen Körper. Außerdem sollte ein Nein der Kinder auch im Familienalltag, wann immer möglich, respektiert werden.
6. Besprechen, wo es Hilfe gibt
Kindern sollte klar sein, dass es schlau ist, sich im Notfall Hilfe zu holen, und kein Zeichen von Schwäche. Sie müssen jedoch auch wissen, wo es überhaupt Hilfe gibt. Dazu ist es sinnvoll, dass Eltern ihre Kinder mit einer „Notfall-Karte“ ausstatten, auf der wichtige Telefonnummern aufgelistet sind.
Es sollten aber nicht nur private Anlaufstellen sein, meint Fuhrmann. „Das kann zum Problem werden, wenn die sexualisierte Gewalt im privaten Umfeld stattfindet. Dann berichten die Kinder, was der Onkel gemacht hat, aber keiner glaubt ihnen, weil alle den Onkel ja selber kennen und überzeugt sind, dass der so was niemals machen würde.“ Bei einem Besuch der Ausstellung „Echt Klasse“ erhalten Kinder daher eine vorbereitete Notfall-Karte, auf der die Nummern von Polizei und Feuerwehr und die „Nummer gegen Kummer“ schon abgedruckt sind, außerdem wird die Nummer des Ele-Phones eingetragen. Das kostenlose Hilfetelefon der Awo steht Kindern und Jugendlichen rund um die Uhr als Anlaufstelle für Fragen zum Thema sexualisierte Gewalt zur Verfügung.
Die Erlebnisausstellung „Echt Klasse“ ist bis zum 27. Mai bei der Awo (Hauskampstraße 58) zu besuchen, Kontakt: 0208 45003-702. Am 31. August feiert das Ele-Phone sein 20-jähriges Bestehen mit einem Familienfest an der Freilichtbühne.
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