Herne/Düsseldorf. Der Herner Poetin Lina Atfah ist der NRW-Kunstförderpreis verliehen worden. Wie es ihr gelang, nicht nur Hendrik Wüst in ihren Bann zu ziehen.

Draußen vor der Tür der NRW-Kunstsammlung K21, ein Dialog zwischen zwei Rauchern. „Die Schriftstellerin war toll.“ „Ja, voll!“

Mit „die Schriftstellerin“ ist Lina Atfah gemeint, die wenige Minuten zuvor im wunderschönen Ambiente des Düsseldorfer Kunstmuseums bei der Verleihung der fünf jährlichen NRW-Kunstförderpreise nicht nur das Publikum, sondern auch Ministerpräsident Hendrik Wüst und Kulturministerin Ina Brandes verzauberte.

In der Sparte Literatur nahm die Wanne-Eickeler Lyrikerin den mit 15.000 Euro dotierten Preis entgegen. Schon die Anmoderation im K21 durch Gisela Steinhauer ließ erahnen, dass diese Auszeichnung etwas Besonderes ist. „Sie ist mit Sicherheit die einzige Autorin in ganz Deutschland, die über die Stadt, in der sie seit zehn Jahren lebt, sagen kann: Ich liebe Wanne-Eickel mit meinem ganzen Herzen, denn Wanne-Eickel ist so romantisch-hässlich wie meine Heimatstadt in Syrien.“

Zur Verleihung des Kunstpreises des Landes NRW an die Fotografin Ursula Schulz-Dornburg und des Kunstförderpreises in fünf Sparten hatte die Landesregierung in die Kunstsammlung K21 eingeladen, dem ehemaligen Ständehaus am Düsseldorfer Kaiserteich.
Zur Verleihung des Kunstpreises des Landes NRW an die Fotografin Ursula Schulz-Dornburg und des Kunstförderpreises in fünf Sparten hatte die Landesregierung in die Kunstsammlung K21 eingeladen, dem ehemaligen Ständehaus am Düsseldorfer Kaiserteich. © Osman Yousufi

Nach einem kurzen (leider am Rhein, nicht an der Emscher gedrehten) Filmporträt ergriff die 2014 wegen politischer Verfolgung aus Syrien nach Deutschland geflüchtete Poetin das Wort. In ihrer Rede spannte die 35-Jährige mit bewegenden Worten einen Bogen von ihrer Flucht aus Syrien und dem harten Los einer Geflüchteten über den Kampf ums Ankommen, ihre Gefühle und die Rolle der Literatur bis hin zu ihrer Dankbarkeit gegenüber Deutschland - jenem Land, dessen Staatsangehörigkeit ihr Ende November im Herner Rathaus von Oberbürgermeister Frank Dudda verliehen worden ist.

„Ich wollte Teil dieses Landes sein, und dieses Land sollte Teil von mir werden.“

Lina Atfah

„Ich war mutig und verträumt genug, um gegen Bürokratie, trockene Gesetze, Briefe, Propaganda, Vorurteile, Einsamkeit, das Wetter, die Sprache, die Sehnsucht, die Angst und das Gedächtnis zu kämpfen“, sagte Atfah. Sie habe das, was in Deutschland als Integration gelte, nicht einfach akzeptiert. „Ich wollte aber leben und mitleben. Ich wollte Teil dieses Landes sein, und dieses Land sollte Teil von mir werden.“

Sie beschloss ihre Rede mit diesen Worten: „Ich bin von Herzen dankbar und wünsche diesem Land immer Sicherheit und Freiheit – und auch weniger Papierkram!“ Ministerpräsident Hendrik Wüst fing den Ball auf: „Noch mehr Papierkram“, sagte der Christdemokrat und überreichte der Lyrikerin die Förderpreis-Urkunde. Und nicht fehlen durften am Ende natürlich noch einige Kostproben ihrer Dichtkunst: Lina Atfah trug in arabischer und in deutscher Sprache ihre Gedichte „Das Navi“, „Die Herzen“ und (Auszüge aus) „Der Mond von Wanne-Eickel“ vor.

Mehr zu Lina Atfah:

Für die Jury des Förderpreises hatte zuvor Autor („Generation Golf“, „1913“) und Kurator Florian Illies die Poesie der Lina Atfah gewürdigt: „Sprache lebt, und damit sie leben und wachsen kann, braucht sie Sauerstoff. Den Sauerstoff, den Lina Atfah der deutschen und der arabischen Sprache zuführt, ist ein ganz besonderer und dafür zeichnen wir sie aus. Wir prämieren mit Lina Atfah eine ganz neuartige Welt der Poesie, die nur durch ihre Sprache entsteht und in der sich etwas verbindet, was es sonst gar nicht gibt. Es sind Zwillinge, wie ihre eigenen Kinder, die sie zusammenbringt mit Worten, Wärme, Witz, Sinnlichkeit und Intelligenz, mit Schmerz und Trost. Wie ihr es gelingt, das in Lyrik, in ganz besonderen Worten auszudrücken, das hat mich sehr begeistert.“

Und nach der Preisverleihung und vor dem Essen noch schnell ein Selfie mit der NRW-Kulturministerin: Lina Atfah und Ina Brandes.
Und nach der Preisverleihung und vor dem Essen noch schnell ein Selfie mit der NRW-Kulturministerin: Lina Atfah und Ina Brandes. © Lina Atfah

Zur Preisverleihung in Düsseldorf begleitet wurde Lina Atfah von ihrem Mann Osman Yousufi, Geschwistern und von ihrer Mutter. Und ob Zufall oder nicht: Mit Guido Kohlenbach, Vize im Kulturdezernat des Landschaftsverbandes Rheinland und Sohn des ehemaligen Herner CDU-Kommunalpolitikers Josef Kohlenbach, saß ein weiterer Herner an ihrem Tisch.

Nach knapp vier Stunden ging es für Lina Atfah und ihre Familie wieder zurück ins romantisch-hässliche und innig geliebte Wanne-Eickel, wo natürlich längst der Mond aufgegangen war.

>>> Zur Person: Lina Atfah

  • Lina Atfah hat im Pendragon-Verlag die arabisch-deutschen Lyrik-Bände „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ und „Grabtuch aus Schmetterlingen“ veröffentlicht.
  • Für den „Grabtuch“-Band wurden ihr und den Übersetzern - ihr Ehemann Osman Yousufi und Brigitte Oleschewski - der Literaturpreis Ruhr 2023 verliehen.
  • Lina Atfah lebt mit ihrem Mann und ihren im April 2023 geborenen Zwillingen Nay und Yan an der Emscherstraße in Wanne-Eickel.
Lina Atfah und Osman Yousufi wohnen mit ihren Zwillingen Nay und Yan seit wenigen Wochen an der Emscherstraße in Wanne. (Archivbild)
Lina Atfah und Osman Yousufi wohnen mit ihren Zwillingen Nay und Yan seit wenigen Wochen an der Emscherstraße in Wanne. (Archivbild) © FUNKE Foto Services | Gero Helm

Die Kunstförderpreis-Rede von Lina Atfah in voller Länge

„In diesen Momenten zieht mein Leben an mir vorbei.
Ich komme aus einem Land, in dem wir nur einmal im Monat Leitungswasser bekommen.
Aus einem Land, in dem der Hunger das Gedächtnis und die Fantasie bewacht.
Aus einem Land, in dem wir unser Leben und Blut für Freiheit, Träume und manchmal sogar für ein einziges Wort geben.
Ich habe überlebt. Ich bin nicht wie so viele andere nur eine Nummer in den Nachrichten. Aber ich bin eine Nummer in der Schlange der Flüchtlinge geworden.
Während Menschen im Meer ertrinken, von der Küstenwache zurückgebracht werden oder von Grenzbeamten durch Schüsse oder Durst sterben, habe ich überlebt.
Ich hatte genug Mut, den Verlust zu akzeptieren.
Genug Mut, zu akzeptieren, dass ich in der Politik unsichtbar bin, in der Menschlichkeit unsichtbar bin – und habe mich gefragt, wie ich dann in der Literatur sichtbar sein könnte?
Ich war mutig und verträumt genug, um gegen Bürokratie, trockene Gesetze, Briefe, Propaganda, Vorurteile, Einsamkeit, das Wetter, die Sprache, die Sehnsucht, die Angst und das Gedächtnis zu kämpfen!
Ich habe das, was sich hier unter Integration vorgestellt wird, nicht einfach akzeptiert. Ich wollte aber leben und mitleben.
Ich wollte Teil dieses Landes sein, und dieses Land sollte Teil von mir werden.
Meine erste deutsche Rede hielt ich 2016 in Köln. Ich schrieb sie mit arabischen Buchstaben, und jetzt liegt das Papier im Auswandererhaus Museum in Bremerhaven.
Diese Rede habe ich selbst geschrieben, ohne Hilfe oder Korrekturen, um zu sagen: Ich liebe Deutschland.
Nicht wegen Herkunft, Blut oder Nationalität, sondern wegen Freundschaft.
Dieses Land ist meine Freundin.
Meine Freundin, die mich, meine Familie und viele andere gerettet hat.
Meine Freundin, die mir meine Stimme und meine Identität als Mensch, Frau und Dichterin zurückgegeben hat.
Meine Freundin, die ich nicht immer verstehe, die mich aber mit offenem Herzen und tiefem Mitgefühl umarmt.
Denke ich daran, nach Syrien zurückzukehren?
Jedes Mal, wenn ich daran denke, erinnere ich mich an das letzte Verhör in Damaskus, als der Offizier sagte: „Denk nie daran, zurückzukommen, und denk daran, dass deine Familie in unserer Hand ist.“
Heute ist fast meine ganze Familie hier.
Mit der Zeit wurden die Menschen, die ich in Syrien kenne, weniger, während sie hier mehr wurden.
Vermisst man Steine, Bäume und Straßen?
Ja, vielleicht. Aber vor allem vermisst man die Menschen, mit denen man in diese Straßen ging und Erinnerungen geschaffen hat.
Hier habe ich Freunde gefunden, die mich vielmals gerettet haben, Freunde, die mich ohne Abstand und ohne Mauern liebten und an mich glaubten.
Diese Freunde sind meine Heimat.
Hier weiß ich, dass ich nicht allein bin, dass ich sicher bin und dass ich die Freiheit habe, über fast alles zu sprechen.
Hier bekam ich die Chance, sichtbar zu sein.
Ohne die Liebe und die große Unterstützung dieses Landes und dieser Sprache könnte ich heute nicht hier stehen.
Gewalt wächst, wenn die Angst wächst.
Die Angst steigt, wenn die Mauern höher werden.
In dunklen Zeiten höre ich mein Herz: Es gibt Hoffnung, die aus Worten kommt – wenn wir einander zuhören, wenn wir miteinander sprechen.
Das Wort bringt Frieden und Licht mit.
Ich bin von Herzen dankbar und wünsche diesem Land immer Sicherheit und Freiheit – und auch weniger Papierkram!“